Freischwimmer
Pfingsten für «Postevangelikale»
Heute gibt es immer mehr engagierte Christen, die den Draht zu ihrer Gemeinde verlieren: Sie versuchen, sich von frommen Negativerfahrungen oder einer engen Theologie freizuschwimmen. Wegen Pfingsten bin ich selber nicht zum postevangelikalen Freischwimmer geworden.
Als Sohn eines Pfingstpredigers habe ich alle Facetten einer christlichen Gemeinde erlebt, schöne und weniger schöne. In meiner Jugendzeit wäre ich als kritischer Mensch fast an meiner Gemeinde gescheitert. Meine Fragen und Zweifel wurden von einzelnen Predigern (nicht aber von meinem Vater) als «Kritikgeist», um nicht zu sagen, als «Geist von unten» diagnostiziert. Dass ich trotzdem nicht zum postevangelikalen Freischwimmer geworden bin, hat viel mit Pfingsten und mit dem Wirken des Heiligen Geistes zu tun. Ich erlebte ihn beim Lesen der Bibel, mitten im Leben und dank Menschen, die intellektuell redlich auf meine Fragen eingegangen sind.
Allerdings muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich die Rede von den «Postevangelikalen» etwas eigenartig und unpräzise finde. Wahrscheinlich wurde «postevangelikal» dem Begriff der «Postmoderne» nachgebildet. Dieser ist eine beliebte Bezeichnung für unsern Zeitgeist. In dieser Vorstellung gibt es die Wahrheit nur noch als Konstruktion, kombiniert mit einem ausgeprägten Individualismus und einer kräftigen Portion Pluralismus.
Aber: Was genau ist denn ein «postevangelikaler» Christ? «Evangelikal» (evangelical) heisst eigentlich «evangelisch», also dem Evangelium gemäss; «post» bedeutet «nach». Was gibt es denn nach dem Evangelium noch zu finden? Eigentlich nichts. Oder allenfalls ein anderes, mehr oder weniger selber gezimmertes Evangelium. Und dies müsste dann sorgfältig am Original gemessen werden. Bei dieser Geisterunterscheidung war für mich der Heilige Geist eine geduldige Hilfe. Ich möchte dies an fünf ausgewählten Wirkungen des Heiligen Geistes zeigen, die mir geholfen haben, trotz schwieriger Fragen und Erlebnisse beim Evangelium zu bleiben.
Der Heilige Geist drängt sich nicht auf
Der Heilige Geist wird oft mit einer Taube (Markus Kapitel 1, Vers 10) verglichen. Dieses Bild lässt erahnen, dass man mit dem Heiligen Geist sorgfältig umgehen sollte. Nicht so, wie ich das in meiner Jugendzeit in meiner pfingstlichen Gemeinde erlebt habe.
Beim Versuch, den urchristlichen Gemeinden nachzueifern, glaubten die damaligen leitenden Brüder, dass es nach der Erwachsenentaufe noch eine zweite Taufe brauche: diejenige im Heiligen Geist. Tatsächlich erfuhren einige der ersten christlichen Gemeinden den Heiligen Geist erst in einer zweiten Erfahrung (Apostelgeschichte Kapitel 19, Verse 2,5,6). Und das gilt auch für manche heutige Christen, die sich noch nie mit der dritten Person der Dreieinheit beschäftigt haben. Der Heilige Geist drängt sich bekanntlich nicht auf. Er will eingeladen werden.
In meiner damaligen Gemeinde führte diese «Zweistufenlehre» aber zu langen Gebetsveranstaltungen, in denen der Heilige Geist herabgerufen wurde. Gemäss der damaligen Ansicht, dass sich die Gegenwart des Heiligen Geistes im Sprachengebet – einem vom Geist geführten Lallen – zeigen würde, wurde gebetet, bis möglichst alle in dieser «Sprache» redeten. Das war nach entsprechendem Gebet an einem solchen Abend auch bei mir der Fall. Die erwähnte Theologie wird von «meiner» Ursprungsgemeinde heute nicht mehr vertreten. Für mich war diese «Geistestaufe» ein tiefes emotionales Erlebnis, verbunden mit geistlichen Früchten. Die bei dieser und andern Gelegenheiten erfahrenen Gefühls-Manipulationen führten bei mir aber dazu, dass ich das Thema «Heiliger Geist» für Jahre zur Seite legte. Anderes wurde für mich wichtiger.
Während meiner Mittelschulzeit war ich daran, meinen Intellekt zu entdecken. Und das war ja laut meiner Ursprungsgemeinde verboten. In der VBG-Bibelgruppe des Lehrerseminars und in den dazugehörigen Ferienlagern lernte ich dann einen Theologen kennen, der mir bei jeder Frage geduldig zuhörte und einige davon auch beantwortete. Diese Erfahrung wurde für mich zu einer zweiten Bekehrung: Ich entdeckte, dass Glaube und Denken sich nicht ausschliessen, sondern ergänzen. Kurz darauf meldete sich auch der Heilige Geist wieder zurück.
Ende der 1970er-Jahre wehte die charismatische Erneuerung durch die Schweiz und erfasste auch die Vereinigten Bibelgruppen (VBG). Hier erlebte ich, wie intellektuell ernst zu nehmende Menschen von visuellen Eindrücken erzählten, im Gottesdienst gab es uch mal ein Sprachengebet, allerdings immer verbunden mit einer Auslegung in verständlicher Sprache. Auch hier konnte ich zurückfragen: Was genau siehst du in einem solches Bild, wie kommt ein Sprachengebet zustande? In einem VBG-Studentenlager war dann der Heilige Geist das Hauptthema. Während drei Nächten hatte ich Träume, die mir am Morgen noch bewusst waren. Im anschliessenden Gespräch legte mir mein späterer Seelsorger alle drei Träume überzeugend aus: die drei Träume zeigten mir meine Begabungen. Damit war der Bann gebrochen: Träumen war für mich etwas Unverdächtiges. Dass der Heilige Geist genau diesen Weg brauchte, um mir näherzukommen, überzeugte mich. Und dass man sein Wirken auch hinterfragen und prüfen durfte, passte zu meiner neuen Entdeckung, dass Glaube und Denken zusammengehören.
Jahre später wurde mir dann bewusst, dass auch mein Glaube an die Möglichkeiten des Denkens irgendwann an seine Grenzen stösst. Ich bat einige Jahre lang um eine Wiedererweckung meiner Gefühle. Die Erhörung dieser Bitte half mir dann, den Heiligen Geist ab und zu auch wieder mal zu spüren.
Heute erlebe ich das Reden des Heiligen Geistes oft wie das sanfte Wehen eines Windes. Es liegt an mir, mich für dieses Wehen zu öffnen. Etwa in der Stillen Zeit am Morgen. Und immer wieder auch tagsüber. Dabei lerne ich immer besser, sein Wirken von anderen Eindrücken zu unterscheiden und dann entsprechend zu handeln. Denn: Der Heilige Geist drängt sich nicht auf, aber er drängt uns mit seiner Güte gerne zum Guten (Römer Kapitel 2, Vers 4).
(2) Der Heilige Geist lässt sich nicht einfangen
Der Heilige Geist kommt und geht, wie er will (Johannes Kapitel 3, vers 8). Er lässt sich nicht einfangen, festlegen oder gar in pfingstlichen Gemeinden pachten. Er hält sich nicht einmal an unsere mehr oder weniger präzise Theologie, obwohl er ein Freund der Theologie ist.Schliesslich wurden die Autoren der Bibel beim Schreiben der biblischen Bibliothek von ihm inspiriert (2. Timotheus Kapitel 3, Vers 16). Das Resultat war Gotteswort in Menschenwort, präzise in die damalige Kultur gesprochen – und immer verbunden mit einer überzeitlichen Bedeutung. Bei meiner Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Theologie erkannte ich neue, faszinierende Möglichkeiten, die Bibel zu verstehen, ohne die Grenzen dieser Versuche zu übersehen. Ich merkte, dass es hier um Fundamente ohne Fundamentalismus gehen musste. Das ermöglichte mir eine Schatzsuche mit wissenschaftlicher Unterstützung, ohne die Bibel den gerade angesagten bibelkritischen Theologien unterzuordnen. Ich erkannte, dass sich die Bibel nicht mir, ich mich aber oft ihr unterordnen musste.
Selbst wenn der Heilige Geist sich beim Entstehen der Bibel als Experte der Theologie erwiesen hat: Er weiss, dass wir seine Hilfe zum zweiten Mal brauchen, wenn wir die Bibel in unser Leben auslegen wollen. Und er geht dabei ganz individuell vor. Gott führte den Propheten Elia vorerst zu einem feurigen Sieg beim Kampf der Geister auf dem Berg Karmel (1. Könige Kapitel 18 und 19), er begleitete ihn dann unsichtbar auf seiner Flucht vor einer feindlich gesinnten Königin, sorgte dafür, dass er sich nach einer depressiven Phase mit einer kräftigen Mahlzeit stärken konnte und begegnete ihm am Berg Horeb ausgerechnet in einem sanften Säuseln – womit wir wieder beim Heiligen Geist angekommen wären.
Diese individuelle Behandlung durch den Heiligen Geist schmeichelt unserm postevangelikalen Individualismus. Und stärkt den dazu passenden Pluralismus: Soll doch jeder den Heiligen Geist auf seine Weise erleben. Wäre da nicht die andere Seite des Heiligen Geistes, die wir insbesondere auch an Pfingsten feiern.
(3) Der Heilige Geist führt uns zusammen
Pfingsten zeigt schon im Vorfeld, dass der Heilige Geist ein Geist der Gemeinschaft ist. Geschockt vom Tod, überwältigt von der Auferstehung und verunsichert durch die Auffahrt ihres Meisters hatten sich die ersten Nachfolger von Jesus in die eigenen vier Wände zurückgezogen (Apostelgeschichte Kapitel 1, Verse 13-14).
Am Pfingsttag wurden die Jünger Jesu zu einem Auftritt inspiriert, der seinesgleichen sucht (Apostelgeschichte Kapitel 2). Sie verkündeten das Evangelium in einer Sprache, die multikulturell verstanden wurde. In Jerusalem und darüber hinaus entstanden innert weniger Jahre Gemeinden, in denen Männer und Frauen, Menschen aus allen sozialen Schichten zusammenlebten, Gottesdienst feierten und manchmal sogar ihren Besitz teilten. Typisch waren dabei Gemeinschaften mit flachen Hierarchien, geprägt von Menschen mit unterschiedlichen, von ihm geschenkten Begabungen, verbunden mit dem Auftrag, diese Gaben zum Wohl des Ganzen einzusetzen (1. Korinther Kapitel 12 und 14). Die Auslegung der Bibel und die Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist unterlag der Prüfung innerhalb der Gemeinden, wo nötig auch im Gespräch mit den Gemeindegründern. Ein mühsamer, aber fruchtbarer Weg, den Pfad durch eine herausfordernde, den Christen oft feindlich gesinnte Umgebung zu finden.
Diese Wirkungen des Heiligen Geistes gelten bis heute. Sie stellen den postevangelikalen Auszug aus den Gemeinden ganz grundsätzlich in Frage. Der Heilige Geist drängt uns, seine Gemeinde, vielleicht sogar die Gemeinde vor Ort, neu zu entdecken und sie in seinem Sinne zu gestalten. Das bedeutet viel Arbeit, die wir – gemeinsam mit ein paar ähnlich Gesinnten und inspiriert von oben – anpacken sollten. So entsteht eine Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist, die uns näher zu Christus bringt – dem Fundament und Ziel der christlichen Gemeinde.
(4) Der Heilige Geist ist uns am nächsten
Wir haben es gesehen: Der Heilige Geist ist ein Geist der Gemeinschaft. Seit Anbeginn ist er es sich gewohnt, in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn aufzutreten. Schon bei der Schöpfung schwebte er über dem chaotischen Wasser (1. Mose Kapitel 1, Vers 2). Er half mit, die schöpferische Ordnung auszubrüten und spielte bei der ersten Beatmung des Menschen eine entscheidende Rolle (1. Mose Kapitel 2, Vers 7). Die Taufe von Jesus wurde von ihm, wie wir gesehen haben, von oben besiegelt. Vor seiner Auffahrt empfahl Jesus seinen Jüngern den Heiligen Geist als Tröster, Anwalt und Berater, der ihnen alles Weitere erklären würde, bis Jesus selber in Person wiederkommen würde (Johannes Kapitel 16).
Während im Alten Testament Gott der Schöpfer und Führer seines Volkes im Vordergrund stand, ist es in den Evangelien sein Sohn Jesus Christus. Seit Pfingsten können wir angesichts des erwähnten Hinweises von Jesus von einem Zeitalter des Heiligen Geistes sprechen. Kurz und gut: Der Heilige Geist ist uns zur Zeit von der Heiligen Dreieinheit am nächsten.
Es macht deshalb Sinn, dass wir uns von ihm trösten, vor Gott vertreten und von ihm beraten lassen. Von daher ist es auch nicht verboten, dass wir uns im Gebet direkt an ihn wenden und ihn um diese Wirkungen bitten. Für uns selber, für evangelikale Freischwimmer und für alle andern, die ihn brauchen, gilt: Der Heilige Geist ist uns näher, als wir denken! Er ist nur ein Gebet entfernt.
(5) Der Heilige Geist schickt uns in die Welt
Die Urgemeinden haben es uns vorgemacht. Sie beschränkten sich nicht darauf, das Evangelium im kleinen Kreis zu zelebrieren. Sie eiferten ihrem Meister nach, der den Einflussbereich Gottes – sein Reich – auf die ganze Schöpfung bezogen hatte. Und das hiess, den Glauben zu leben und zu bezeugen, sei es vor Ort, im Beruf, in der Gesellschaft und in der Auseinandersetzung mit den damaligen Mächten und Lebensentwürfen.
Dabei ist das, was für Christen heilsam ist, auch heilsam für die Welt. Diese Erkenntnis führte mich zu einer weiteren meiner vielen Bekehrungen: sie bewirkte meine Hinwendung zur Stadt und später zum Dorf, in dem ich heute lebe. Es keimte ein neuer Schwerpunkt auf: das Fördern einer werteorientierten Orts-, Regional- und Stadtentwicklung, zusammen mit möglichst allen Christinnen und Christen vor Ort und allen weiteren Menschen, die guten Willens sind.
Auch kirchenferne, ja sogar «postevangelikale» Menschen können zumindest erahnen, wie gut uns allen das Wirken des Heiligen Geistes tut. Bis sie ihn erstmals oder erneut persönlich kennenlernen und merken, woher sie ihre Begabungen erhalten haben. Und wer ihnen den Atem zum Leben gegeben hat.
Zum Originalarikel von Forum Integriertes Christsein
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Autor: Hanspeter Schmutz
Quelle: Forum Integriertes Christsein
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