Ein spannender Einblick
Christen im Irak: Die Brückenbauer
Die Situation ist nicht vergleichbar mit den genannten Ländern. Der Irak ist altes christliches Kernland. Bereits 92 nach Christus wurde in Erbil ein Bischof eingesetzt. Jahrzehntelange Kriege und nicht zuletzt der Terror des IS haben in den letzten Jahren jedoch zu einem Exodus von fast 90 Prozent der hier seit Generationen lebenden Christen geführt. Die verbliebenen 250'000 spielen aber eine bedeutsame Rolle für den ganzen Irak.
Christen als Minderheit im muslimischen Irak
Der Irak ist ein mehrheitlich muslimisch geprägter Staat. Er folgt der islamischen Kultur. Seine Rechtsordnung richtet sich hauptsächlich am islamischen Recht, der Scharia, aus. Dies führt zu einer Benachteiligung der Christen. Konkret bedeutet das, dass ein christlicher Iraker nicht die gleichen Rechte hat wie ein muslimischer. Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten, wie Jesiden, Bahai, Mandäer oder Juden, sind vor dem Gesetz keine gleichberechtigten Staatsbürger.
«Ich würde nicht unbedingt sagen, dass wir uns 'verfolgt' fühlen, aber auf jeden Fall 'diskriminiert'», so Emanuel Youkhana, Gründer und Exekutivdirektor des christlichen irakischen Hilfswerks CAPNI. Man könnte also argumentieren, dass die Christen im Irak keiner Hilfe bedürften, da sie nicht verfolgt werden. Dieses Argument wäre jedoch ein Trugschluss und könnte das grosse Ziel verfehlen, das die christliche Gemeinschaft anstrebt: Der Irak als ein Staat, der auf dem Prinzip der Staatsbürgerschaft basiert und nicht auf der Zugehörigkeit zu einer Religion. In ihm sind alle Bürger gleich.
Für ein friedliches Miteinander
Die Christen im Irak arbeiten genau daran. Sie denken und handeln konfessions- und religionsübergreifend. Ihr diakonisches Engagement zielt nicht allein auf ihre Glaubensgeschwister, sondern auf alle Menschen. Warum? «Weil wir Christen sind!», so Youkhana, «Wir sind durch unsere christlichen Werte motiviert, spiegeln sie in Programmen und Taten wider, um im Sinne des Evangeliums zu dienen.» Dies charakterisiert wie wenig anderes christliches Denken und Handeln: Liebe und dadurch Frieden. Die Christen im Irak sehen sich dem Evangelium verpflichtet und als Brückenbauer, um ein friedliches Zusammenleben aller zu erreichen.
Dazu muss die irakische Gewaltspirale durchbrochen werden. Bedrängte Minderheiten neigen überall dazu, sich förmlich einzuigeln und von der Mehrheit abzukapseln. Durch ihren diakonischen Ansatz bauen die Christen Brücken – auch zur Mehrheitsgesellschaft. Das hilft beim Abbau von Misstrauen. Mehr noch: Auch Minderheiten untereinander werden durch die christlichen Brücken in Verbindung gebracht, etwa die Jesiden oder die Shabak, die in der gleichen Region leben. Was erreicht werden soll: Abbau der Vorurteile und Benachteiligungen, ein Zusammenleben im Bewusstsein Menschen im gleichen Land zu sein, die sich die gleiche Erde teilen – und das schon seit Jahrhunderten – sowie die Heilung der Wunden der unmittelbaren Vergangenheit.
Traumata der Vergangenheit
Diese Wunden sind unter anderem die Traumata, die die Christen erlitten haben. Das Bewusstsein, von Radikalen misshandelt oder vertrieben worden zu sein, gar mitansehen zu müssen, wie Familienmitglieder ermordet wurden, sitzt bei einigen tief. Hier ist Hilfe dringend nötig, denn die christliche Gemeinschaft will nicht weiterhin als Opfer von Verfolgung und Diskriminierung beschrieben oder in diese Rolle gepresst werden. Das bringt keine Lösung, sondern befördert eher den Exodus der Christen.
Es geht ganz im Sinne des Evangeliums der Liebe vielmehr darum, Versöhnungsarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften und Volksgruppen zu betreiben. «Wir können und dürfen aufgrund unseres Glaubens und unserer Werte nicht nach Rache streben. Wir brauchen zwar Gerechtigkeit für alle, aber dürfen diesen Ruf nach Gerechtigkeit nicht dazu missbrauchen, die Ungerechtigkeit zu vergrössern. Was wir brauchen, ist Frieden», fasst es Youkhana in knappe, aber prägnante Worte.
Vergeben heisst nicht vergessen
Vieles ist passiert. Abscheuliches und Unbeschreibliches. Vergeben soll nicht mit Vergessen gleichgesetzt werden, aber mit einem Ende des Kreislaufs von Abrechnungen. Das Christentum, besonders in den islamischen Ländern, die zuvor jahrhundertelang christlich geprägt waren, war nie ein Luxus oder ein angenehmes Leben, weder in materieller Hinsicht noch in Bezug auf das Gemeinschaftsleben. Und doch bewahrten die Christen ihre religiöse Identität. Sie und die anderen religiösen Minderheiten zahlten einen hohen Preis für diese Identität. Die Benachteiligungen und die Vorurteile sind mit dem Verschwinden des IS-Terrors nicht mit abgezogen. Sie sind noch da. Daher gilt es, daran zu arbeiten, um die Wunden so rasch wie möglich zu heilen.
Nicht Beschützer, sondern Unterstützer der Christen im Irak
Die Christen vor Ort machen ihre Hausaufgaben. Sie handeln nicht nur diakonisch, sondern engagieren sich auch politisch und unterstützen aufgeschlossene Organisationen und Multiplikatoren. Sie fördern Schulen und die Bildung allgemein, sind in den Medien vertreten und nehmen zunehmend Einfluss auf die Gesetzgebung. Daher sollte Hilfe nicht in erster Linie Christen gewidmet werden, da dies als unerwünschter Eingriff des Auslands gewertet werden und die Diskriminierung befeuern könnte.
Youkhana drückt es so aus: «Die westlichen Länder sollten nicht als Beschützer der Christen definiert werden, sondern als Unterstützer für das Land.» Die wirkungsvollste Möglichkeit, um den Irak auf seinem Weg von einer religiösen Gesellschaft hin zu einem Staat unseres Verständnisses zu unterstützen – und somit die Diskriminierung der Christen zu beenden – ist die Unterstützung der Brücken bauenden christlichen Gruppen im Land.
Zum Originalartikel auf ojcos-stiftung.de
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Autor: David Müller
Quelle: ojcos-stiftung.de
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