Talk über (un)gesunden Patriotismus
Verfallen wir einem neuen Nationalismus?
Pfarrerin Catherine McMillan lebte bereits in fünf verschiedenen Ländern und beobachtet nationalistische Tendenzen genau. Auch Marc Jost hat sich Gedanken über Patriotismus und Nationalismus gemacht. Im Livenet-Talk teilen sie ihre Gedanken.
Schon vor mehreren Jahren hat Marc Jost, Generalsekretär der SEA (Schweizerische Evangelische Allianz), einen aufkommenden neuen Nationalismus untersucht. Pfarrerin Catherine McMillan lebte einige Zeit in den USA und verfolgt die dortigen aktuellen Geschehnisse eingehend. Mit Livenet-Chefredaktor Florian Wüthrich diskutieren die beiden über Patriotismus und Nationalismus.
Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus
«Ich feiere den 1. August mit meiner Familie», stellt Marc Jost klar. Für ihn sei dies Ausdruck der Liebe und Dankbarkeit seinem Heimatland gegenüber. Diese positive Einstellung bezeichnet er als Patriotismus. «Im Gegensatz zum Patriot sehe ich den Nationalist.» Der Nationalist lebe eine extreme Form von Patriotismus. In christlicher Prägung wird die Nation mit der Kirche oder die Regierung mit Gott gleichsetzt.
«Ich habe eine etwas andere Perspektive, weil ich schon in fünf Ländern gelebt habe», sagt Catherine McMillan. Immer sei sie dankbar für das jeweilige Land gewesen und habe auch die Unabhängigkeitstage mitgefeiert. «Es stört mich aber beispielsweise, wenn Fahnen in Kirchen hängen, so wie es in Amerika oder Ungarn manchmal der Fall ist.» Dort werde oft unterstellt, dass jemand, der die Anliegen der patriotischen Partei nicht vollumfänglich unterstützt, kein guter Christ ist.
Neue Trends in den USA
Da Trends in den USA mit einigen Jahren Verzögerung oft auch zu uns kommen, lohnt sich ein Blick über den grossen Teich. Dort wird die eigene Nation als Gottes auserwähltes Volk betrachtet und fremde Menschen entsprechend als Gefahr wahrgenommen. Catherine McMillan beschreibt, wie der Glaube, auserwählte Nation zu sein, nach einer autokratischen Regierung verlangt, wenn die Mehrheit des Volkes diese Ansicht nicht mehr teilt.
Marc Jost stimmt dem zu: «Für mich war es ein Schlüsselerlebnis, als ich den damaligen Präsidenten Donald Trump von den USA als 'Licht der Nationen' sprechen hörte, welcher die Nation damit auf die Ebene von Gottes Volk erhob.» Dass die Aussage des Präsidenten unwidersprochen geblieben ist und viele Christen dies sogar positiv aufgenommen haben, habe Marc damals schockiert.
Trump werde bei vielen amerikanischen Christen als Teil von Gottes Plan betrachtet. «Er muss nicht der gute Christ sein», beschreibt Catherine die Erwartung der amerikanischen Christen. «Er ist wie der persische König des Alten Testaments, den Gott brauchte, damit sein Volk aus dem Exil nach Israel zurückkommen konnte.» Dabei gehe es nicht mehr um ein Christsein als Nachfolge von Jesus, sondern um ein Christsein im Endzeitkampf.
Gottesstaat und christliche Werte
Durch eine Art Gottesstaat will die Gesellschaft kontrolliert werden. «Es ist die Vorstellung, einem Volk christliche Werte aufzwingen zu können», sagt Marc und distanziert sich klar von einem solchen Denken. «Hier muss man Kritik üben. Das ist nicht der richtige Weg. Als Christen sollten wir in der Öffentlichkeit und der Politik einen anderen Umgang pflegen.»
Catherine stimmt zu und ergänzt, dass die falsche Betonung christlicher Werte eine Gefahr sein könne. «Ich selbst spreche gerne von christlichen Werten und christliche Werte sollten auch in die Politik hineingebracht werden. Wenn man aber alles im Namen der christlichen Werte tut, wird das zu einem Kampfslogan beispielsweise gegen den Islam.» In Amerika stecke da auch sehr viel Rassismus hinter.
Nationen sind wichtig – eine multikulturelle Kirche auch
«Nur eine multikulturelle Kirche bietet einen wahren Vorgeschmack auf die himmlische Gemeinschaft.» Mit diesen Worten hat Marc Jost die Gemeinde schon zu einem früheren Zeitpunkt umschrieben. «Gott stellt sich eine versöhnte Gemeinschaft aus allen Völkern vor», ergänzt er heute. «Damit gilt unser Auftrag der Menschheit als Ganzes.» Als Politiker bedeute dies, allen Menschen zu dienen. Da 40 Prozent der Menschen in der Schweiz einen Migrationshintergrund haben, gäbe es natürlich auch Schwierigkeiten. «Diese sollten uns aber nicht dazu verleiten, uns dieser Herausforderung nicht zu stellen.»
Marc erklärt: «Wenn wir das Evangelium und unseren Auftrag ganzheitlich sehen und verstehen, dass Menschenliebe aus Wort und Tat besteht und dass sozialdiakonisches Handeln zu unserer Verantwortung gehört, sind wir vor Fremdenfeindlichkeit gefeit – weil wir ihnen dienen wollen.» Andererseits dürfe aber auch die Bedeutung der Nationen nicht unberücksichtigt bleiben. «Es ist gut, dass wir gewisse Räume und Grenzen haben.» Sich von der Herausforderung interkulturellen Miteinanders zurückzuziehen sei genauso falsch wie der Versuch, dieses mit politischen Mitteln zu kontrollieren. «Ich glaube, dass unser Auftrag darin besteht, Licht und Salz in dieser Welt zu sein.»
Für einen gesunden Patriotismus
Wie kann ein gesunder Patriotismus in einem Land gefördert werden, das immer vielfältiger wird? Die Antwort auf diese Frage sieht Marc Jost in einer Dankbarkeit für das Gute, das wir in unserem Land geniessen dürfen und dem Leisten eines Beitrags zum Gelingen unserer Gesellschaft. «Als Christ stelle ich dies aber nicht über meinen Glauben. Wenn mein Glaube nämlich plötzlich in Konflikt mit Beschlüssen des Staates kommt, dann braucht es die kritische Stimme der Christen in der Gesellschaft.»
Sehen Sie sich hier den gesamten Livenet-Talk an:
Forum Kommunikative Theologie: Droht ein christlicher Nationalismus in der Schweiz?
Nach Sturm aufs Kapitol: Hunderte evangelikale US-Leiter verurteilen christlichen Nationalismus
Indiens Christen unter Druck: Die Christen als Feindbild des Hindu-Nationalismus
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet
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