Bob Dylans Album
Vom Zimmerman zum Musik-Poeten
Es dauerte nicht lange, bis sein 39.Album auch in der Schweiz und Deutschland auf Platz Nr.1 einschlug. Mit der Ankündigung des Doppelalbums «Rough and Rowdy Ways» von Robert Allen Zimmerman, alias Bob Dylan, kündigten sich auch die Erwartungen auf höchstem Level an. Doch Dylan wäre nicht Dylan, würde er sich um Erwartungen kümmern; einmal mehr ging er einfach seinen Weg – und übertraf sie.
Tatsächlich ist nun der lyrische Songschreiber, der nächstes Jahr 80 wird, der erste Künstler in der Geschichte, der es seit den 60ern in jedem Jahrzehnt in die Top 40 geschafft hat. Unfassbare 23 Alben landeten bisher in den Top 10 und 50 Alben in den Top 40.
Und die Kreativität sprudelt weiter. Dennoch, die grösste Entdeckung ist, wieviel er eigentlich zitiert und kopiert. Sein Alter wirkt sich zwar auch auf die Stimme aus: Sie rutschte von der Nasen-Region hinunter auf Hals- und Brusthöhe. Doch das steht ihm sehr gut, wie man auf den zehn Songs des neuen Albums hört.
Das Rätseln um seine Texte
Wo sich die Texte in heutigen Worship-Liedern oder Liturgien nur auf wenige Worte konzentrieren, komponiert Dylan am anderen Ende des Text-Spektrums. Dazu zählen auch andere Künstler wie U2, die mit Sprache und Gedanken spielen, weil ihnen das Offensichtliche zu banal, zu eindimensional ist.
So gilt es, an diese Geschichten, Gleichnisse und die Poesie heranzugehen; ähnlich wie mit der Bibel. Worte sind oft mehrdeutig.
Die Musik ist dementsprechend begrenzt wichtig, und doch hört man auch Ohrwürmer. Und weil er auch gefrässige Bücherwürmer und ihre oberste Gilde zu begeistern vermochte, wurde Bob Dylan 2016 als erster Musiker mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.
Tempo-Palette, Papst und Prophet
Er wäre nicht Querdenker und Kultfigur, wenn er sich um Konventionen wie die Spiellänge eines Songs kümmern würde. Da erreicht der Längste knappe 17 Minuten. Mit «I Contain Multitudes» startet das 2020er-Werk vom Meister Dylan und zwar mit seiner meditativen Seite. Insgesamt bietet das Album die drei beliebten Haupt-Tempi; nebst den Ruhigen also auch Mid-Temponummern bis hin zu kräftigtreibenden Liedern wie «Goodbye Jimmy Reed».
«False Prophet» hat einen spannungsgeladenen, fast bösartigen Bluesgroove. Er ist hundertprozentig von «If Lovin' Is Believing» von Billy 'The Kid' Emerson übernommen. Und der Text muss auf dem Hintergrund eines Papst-Erlebnisses interpretiert werden. Denn Papst Johannes Paul II. hatte Dylan 1997 zu einem Auftritt eingeladen, welchen beide erfreut feierten. Doch noch zehn Jahre später monierte «Papa Ratzi» Ratzinger, wie skeptisch er sei, dass man damals eine «solche Art Propheten» auftreten liess.
Die Hauptzeile ist dann in Variationen: «Ich bin kein falscher Prophet, ich weiss, was ich weiss.»
Klonen wie Frankenstein
«My Own Version of You» ist ein swingender Dreiviertel-Softblues mit James Bond-Spannung. Er beschreibt, wie es wäre, eine Kreatur aus Fleisch und Blut zu erschaffen. Was natürlich in Zeiten des Klonens nicht bloss Illusion ist und er Parallelen zu Frankenstein zieht. Und hier blitzt sein literarisches Genie auf, wenn er so vieldeutige Zeilen singt wie «Ich bringe jemanden zum Leben, der so fühlt wie ich», «Was würde Julius Cäsar tun?», «Du sollst das Piano spielen wie Liberace, oder Johannes der Apostel», «Kannst du mir sagen, was es heisst: sein oder nicht sein?»
Die Grundmelodie von «I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You» ist Offenbachs «Barcarole» geschuldet in allerfeinstem, betörendem Dreviertel-Takt. Es ist ein Soundtrack, der zu einem Jim Jarmusch-Film passt, der in einer schummrigen Kneipe auf dem Land spielt, wo gerade ein einsames Paar am Tanzen ist. «…If I had the wings of a snow white dove, I'd preach the gospel, the gospel of love. A love so real, a love so true…» (Frei übersetzt: Wenn ich die Flügel einer schneeweissen Taube hätte, würde ich das Evangelium predigen, das Evangelium der Liebe. Eine Liebe, die so real ist, eine Liebe, die so wahr ist...)
Müssiggang mit der Kirche. Und «die Muse»
Der treibende Blues-Groove von «Goodbye Jimmy Reed» ist durchzogen mit Erfahrungen und Fragen an die Kirche. Dylan wurde in der Hippie-Zeit zum Aushänge-Schild der «Born again»-Bewegung und wurde teils auch von ihr ausgenutzt. Hier klingen Erlebnisse aus dieser Thematik mit, jedoch nicht unbedingt verbittert.
Und poetisch singt er «For thine is kingdom, the power, the glory – Go tell it on the mountain, go tell the real story», und er könne seine Platte nicht mehr spielen, seine Nadel sei stecken geblieben…
«Mother of Muses»: Ja, Dylan muss eine enge Beziehung zu ihr haben. In der Folk-Ballade singt er: «Mutter der Muse, sing für mich, sing zu meinem Herzen (…) und für Martin Luther King, die ihren Weg gegangen sind – möge ich täglich von ihnen singen.»
JFK, MLK und aktuelles BLM
«Murder Most Foul» erschien bereits als Vorab-Single. Ganze 16:54 Minuten spielt das Klavier wie ruhige Wogen im Meer, die einen sanft hin und her schaukeln, wozu der Wind Episoden erzählt. Es geht um das Attentat auf John F. Kennedy, welches damals Bob Dylan und die ganze Nation schockierte. Es geht ihm jedoch auch um die gegenwärtigen Zeiten, wo hingegen ein Präsident regiert, der die Rechte der Afro-Amerikaner nicht schützt oder sogar mit Füssen tritt.
Nebst Kennedy und Reverend King erwähnt er Anne Frank, John Lee Hooker, King James oder Buster Keaton mit Zeilen wie «…another one, and another one and another one bites the dust».
Neues Kleid von Musik und Namen
Sie sind wirklich erstaunlich, Dylans Massen von Referenzen, die das Album von A bis Z färben: vom Album-Titel (Jimmie Rodger) über Personen-Aufzählungen bis hin zu Songmelodien, die er aufnimmt und ihnen ein neues Kleid webt.
Das bedeutet einerseits, dass der König des Songwritings sehr belesen ist, einen enormen Schatz an Wissen verfügt und diese Fülle kreativ-stimmig zu interpretieren weiss. Andererseits «ent-täuscht» es natürlich, dass auch einer der grössten Musikpoeten seine Werke nicht alle von Grund auf selber erfindet, sondern sich anderer Quellen bedient. Doch als wichtige Inspiration gehört immer noch die gute, liebe Muse und natürlich der Ursprung von allem Guten, der Schöpfer-Gott selber.
Nicht zuletzt sind viele biblische Referenzen zu finden, wie «Die Stadt Gottes», «Falscher Prophet» oder «Ich fühle den Heiligen Geist in mir, sehe das Licht, das Freiheit gibt. Ich glaube, dass es in Reichweite von jedem ist, der lebt … oh, Herr.»
Bei der Konzert-Einleitung seiner «Never Ending Tour», die 1988 begann und das 2000. Konzert im Jahr 2007 auf der Bühne feierte, ertönte jeweils: «…der daraus (Drogen und Inszenierung) emporstieg und Jesus fand. Der am Ende der 80er schon abgeschrieben wurde und plötzlich eine ganz neue Richtung einschlug und in den späten 90ern einige der grössten Werke seiner Karriere veröffentlichte…»
Die Never Ending Tour geht weiter – und zieht Richtung Ewigkeit.
Hier hören Sie das Lied «Key West» (Philosopher Pirate), Nr.9 auf dem Album:
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Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet
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