Worauf hören Sie?
Offenes WLAN oder offener Himmel
Eine kleine Meldung geistert durch die Medien: Kirchen in Berlin richten «rings um den Kirchturm» freies WLAN ein. Diese «Godspots» finden Befürworter und Kritiker; sie regen aber auch zu ein paar prinzipiellen Fragen an: Sehen wir noch, oder hören wir schon? Wofür sind Kirchen da – für die Weite oder für die Höhe?Die evangelische Nachrichtenagentur «idea» meldete es: In rund 220 Kirchen in Berlin und Brandenburg gibt es jetzt die WLAN-Verbindung mit dem schönen Namen «Godspot». Jeder kann dort online gehen.
Zustimmung…
Der Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, Martin Germer, findet freies WLAN «rund um den Kirchturm» gut: «Die Evangelische Kirche zeigt sich damit gastfrei, modern, kommunikationsfreudig und im wahrsten Sinne des Wortes international anschlussfähig.» Pfr. Germer rechnet damit, dass viele der rund 1,3 Millionen Besucher der Gedächtniskirche pro Jahr das Angebot dankbar wahrnehmen werden sowie zahlreiche Passanten auf den Stufen vor der Kirche. Der Zugang ermögliche seiner Gemeinde neue Chancen, ihre Angebote bekanntzumachen.Germer: «Natürlich wollen wir nicht, dass unsere Kirche damit zum Internet-Café wird, wo alle nur noch auf ihr Smartphone eintippen oder gar Filme anschauen.» Während der Gottesdienste und Andachten werde deshalb das WLAN im Kirchenraum nicht benutzbar sein.
…und Kritik
Anders sieht es der evangelische Hochschulseelsorger und Pfarrer Mathias Kürschner. Es sei nicht der Auftrag der Kirche, «Menschen freien Zugang zum Internet zu ermöglichen»: «Geht es nicht vielmehr um den Zugang zu Gott und zum ewigen Leben?» Für ihn ist es wichtig, dass Menschen in der Kirche «einmal unabgelenkt bei sich» sein könnten und nicht ständig der Medien- und Kommunikationsflut ausgesetzt seien. «Gerade das ist aber unbedingt nötig, wenn man bewusst an einem Gottesdienst teilnehmen möchte», stellt er fest. Das Hintergrundrauschen der Arbeitswoche solle bewusst ausgeblendet werden. Im WLAN-Angebot seiner Kirche sieht Kürschner eher ein «Kirchentuning», das dazu beitragen soll, «den oft spärlichen Gemeindebesuch zu frisieren».
Man kann sich der einen oder der anderen Meinung anschliessen. Das Thema wirft aber ein paar grundsätzliche Fragen auf. Worauf hören wir? Wie hören wir? Können wir überhaupt noch hören?
Gottes Stimme
Gott redet. Und er will gehört werden. Klar – Gott kann mitten im lauten Alltag reden, und er kann auch übers Internet reden. Das ist nicht die Frage. Gott sei Dank redet er immer und oft und über alle Kanäle.
Die Frage ist aber: Finden wir noch Zeit und Ruhe zum wirklichen «tiefen Hören»? Wann haben Sie zum letzten Mal Gottes Stimme deutlich und vernehmlich gehört, so dass es Ihr Leben wirklich geprägt oder Ihre Richtung verändert hat? Wann waren Sie zum letzten Mal «unabgelenkt bei sich»?
Hier kommt das Internet unvermittelt ins Gespräch. «The Medium is the Message» stellte Marshall McLuhan schon 1964 fest: Das Medium prägt die Botschaft. Das war beim Radio so, dann beim Fernsehen, dann bei den verschiedenen Möglichkeiten, aufzunehmen – und vielleicht am stärksten beim Internet.
Internet verändert unser Gehirn
Was wenigen bekannt ist: Das Internet verändert unser Gehirn, das heisst, die Art, wie wir Informationen aufnehmen und verarbeiten. Wer viel im Internet ist, wird immer mehr Mühe bekommen, beispielsweise einen anspruchsvollen Text im Buch konzentriert zu lesen – unser Gehirn möchte ständig auf Links klicken, sich ablenken, und sucht Seiten-Informationen. Nicholas Carr, Autor von «The Shallows», bringt es auf den Punkt: Das Internet macht uns eigentlich dumm, das heisst, tiefes Denken wird durch flaches Denken ersetzt. Sogar unsere Hirnstruktur wird verändert, denn unser Gehirn ist «plastisch» und passt sich der Art, wie wir Informationen aufnehmen, an.
Wer überall ist, ist nirgends
Was hat das mit Gott zu tun? Unter Umständen viel. Gott redet. Gott lässt sich Zeit. Seine Worte sind «Geist und Leben» und können uns verändern. Aber die Worte der Bibel sind nicht immer leicht zugänglich. Sie erfordern Konzentration und sprechen uns in der Tiefe an. «Wenn wir ständig abgelenkt sind und unterbrochen werden, wie das der Fall ist, wenn wir auf die Bildschirme unserer Computer und Mobiltelefone starren, kann unser Gehirn nicht die starken neuronalen Verbindungen bilden, die unserem Denken Klarheit und Tiefe geben. Unsere Gedanken werden unzusammenhängend, unser Gedächtnis schwach. Der römische Philosoph Seneca drückte es schon vor 2000 Jahren aus: 'Überall sein heisst nirgends sein'» (Nicolas Carr)Die Frage ist nicht so sehr, ob die Kirche freies Internet anbieten soll. Die viel wichtigere Frage ist: Wo lernen wir heute die Kunst, still zu werden und Gott reden zu lassen? Viele Menschen suchen heute – oft unbewusst – diese Stille in Kirchen. Wir spüren: Wir sind ständig online und werden immer leerer und flacher. Es ist eine der wichtigsten Lebensaufgaben heute, im Gewirr der Stimmen, Meinungen und Links die eine Stimme heraushören zu lernen, die Leben gibt. Der Himmel ist offen, Gott hält sich nicht bedeckt oder versteckt, der Zugang ist gratis – aber nicht billig.
Zur Webseite:
Artikel zu Nicholas Carr, Autor von «The Shallows» im Telegraph (englisch)
Nicholas Carr – The Shallows. Wer bin ich, wenn ich online bin und was macht mein Gehirn solange
Zum Thema:
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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Jesus.ch
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