Opfer

Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff

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Abendmahl (Bild: Pixabay)
Opfer ist ein Begriff, der gegenwärtig angesichts der vielen Krisen in aller Munde ist. Doch niemand möchte ein Opfer sein. Wir wollen gestalten und nicht erleiden. Opfer ist auch ein zentraler Begriff in der Bibel. Wie kann man ihn für heute deuten?

Was verbinden Sie mit dem Begriff Opfer? Auf den ersten Blick scheint es ein eher negativ besetztes Wort zu sein. Wir sprechen von Verkehrs- und Kriegsopfern, von Missbrauchs- und Gewalt-Opfern. Im Zentrum stehen hier Menschen, die auf irgendeine Art hilflos unter die Räder von Gewalt geraten sind.

Dann gibt es aber auch das Opfer, das Menschen für andere erbringen: Mütter opfern sich auf für ihre Kinder, Soldaten fürs Vaterland und der Opferstock am Ausgang der Kirche sagt uns, dass wir mehr geben sollten als nur unser Kleingeld. Und schliesslich bekennen Christinnen und Christen, dass Jesus am Kreuz das letztgültige Opfer erbracht hat zu unserer Versöhnung mit Gott.

Diese Art von Opfer für andere hat positivere Aspekte, kann aber auch mulmige Gefühle auslösen: Was, wenn die opferbereite Mutter ihre Haltung dazu benutzt, ihr Kind klein zu halten? Was, wenn das Vaterland im Namen des Opfers zu sinnlosem Sterben und Töten auffordert? Und wie ist es mit Jesus? Ist er von Gott kaltblütig geopfert worden?

Die zwei Seiten des Opfers

Als junge Studentin war ich in den 90er Jahren erstmals für längere Zeit in England. Ich war fasziniert davon, dass es im Englischen mehr als einen Begriff für das deutsche «Opfer» gibt: Victim ist das Individuum, das Gewalt erleidet, causality wird im negativen Sinn für Verkehrs-und Kriegsopfer gebraucht, sacrifice ist das religiöse und im abgeleiteten Sinn auch ethische Opfer.

Dieses Opfer hat grob gesprochen zwei Dimensionen: Es ist ein Geschenk und es kostet etwas. Das lateinische «sacer» und «facere», das im englischen Begriff «sacrifice» steckt, bedeutet «heilig machen» oder auch «konsekrieren». Etwas wird vollumfänglich in eine besondere Sphäre gebracht und Gott übereignet. Jemand hat das Opfer als das Geschenk definiert, das nicht zurückgenommen wird.

Dies wird im Ritual des Verbrennens einer Opfergabe deutlich gemacht, egal ob es sich um ein (getötetes) Tier oder eine Handvoll Getreide handelt. Der Rauch, der zum Himmel steigt, wird zum Beispiel in 3. Mose Kapitel 6, Vers 21 als «lieblicher Geruch für den Herrn» beschrieben. Das Volk Israel kannte selbstverständlich das rituelle Opfer. Es unterschied sich darin nicht von seinen Nachbarvölkern – ausser im Verbot von Menschenopfern.

Opfern im ersten Testament

Diese verschiedenen Formen des Opfers sind besonders in den ersten sieben Kapiteln des dritten Buches Mose, dem so genannten Leviticus, detailliert beschrieben: Da gibt es das Brandopfer (Lev. 1), das Speiseopfer (Lev. 2), das Heilsopfer (Lev. 3) aber auch die Sünd- und Schuld-Opfer (Lev. 4-6), die im späteren christlichen Denken zentral wurden. Die genaue Bedeutung dieser oft archaisch anmutenden Rituale ist unter Gelehrten umstritten.

Wichtig ist zu sehen, dass diese Opfer-Rituale nicht ausschliesslich mit Sühne zu tun hatten. In manchen Fällen wurde Gott ein Dankopfer vom Besten aus Feld und Stall dargebracht – es musste nicht zwingend ein Tier sein. Opferfeste waren häufig fröhliche Zusammenkünfte, wo kräftig zugelangt und auch Alkohol genossen wurde. Auch beim Sühneopfer wurde das Töten des Opfertieres nicht als Strafe oder Leiden verstanden. Im Ritual des grossen Versöhnungstages in Leviticus 16 wird ein «Sündenbock» in die Wüste getrieben, aber nicht getötet (Lev 16, Vers 10). Der andere Bock wurde geschlachtet und sein Blut im Allerheiligsten auf die Deckplatte der Bundeslade gesprengt. Dieses Bild steckt möglicherweise hinter der Aussage von Paulus, dass Gott Jesus als «Sühneopfer hingestellt hat, durch den Glauben in seinem Blut». Der Alttestamentler Jacob Milgrom schlägt vor, das Blut als eine Art geistliches «Putzmittel» zu verstehen, nicht in erster Linie als Hinweis auf Gewalt und Leiden.

Beim Opfern treten also Menschen in Beziehung mit Gott, indem sie Gott rituell einen Teil ihrer Güter (zurück)schenken und sich so von ihren Sünden reinigen lassen. Dabei ist wichtig, dass die Menschen Gott ihr Bestes geben, nicht etwa ein lahmes oder blindes Tier, für das sie keine Verwendung mehr haben. Der Prophet Maleachi wettert gegen seine Landsleute, die das tun und sagt: Versucht diesen Trick doch mal, wenn ihr dem Landvogt Steuern zahlen sollt und schaut, ob das gut kommt.

Mehr als ein Ritual

Das Ziel ist dabei nie der Ruin der Opfernden. Jeder soll geben, was er oder sie vermag. In manchen Fällen gelten verschiedene Tarife für Arme und Reiche. Das rituelle oder kultische Opfer in seinen verschiedenen Formen ist das Herzstück der Beziehungs-Pflege zwischen Gott und seinem Volk: Dankbarkeit, Feiern von Gottes Segen und Bitte um Vergebung, all das gehört beim Opfern dazu.

Aber was ist, wenn das Opfer-Ritual nur noch dazu benutzt wird, um religiöse Pflichten gegenüber Gott abzuhaken? Was, wenn es nur noch eine tote Zeremonie ist, die keinen Einfluss auf das weitere Leben hat? Genau das bemängeln viele der alttestamentlichen Propheten. Sie klagen ihr Volk an, dass die Ethik und Nächstenliebe nicht mit den Opfer-Ritualen Schritt halten. Die Menschen glauben, dass sie Gott mit Opfern günstig stimmen und gleichzeitig ihre Mitmenschen unterdrücken können. Manche Texte sind äusserst polemisch: «Ich habe eure Lobpreislieder satt, hört auf, mich mit eurem Geklimper zu belästigen – kümmert euch vielmehr um Gerechtigkeit!» Jesus tritt in die Reihe dieser Propheten, wenn er den Propheten Hosea zitiert und sagt: «Ich will Barmherzigkeit, nicht Opfer.»

Das neue Opfern im zweiten Testament ...

Das frühe Christentum ragt aus den meisten anderen Religionen heraus als eine Religion ohne rituelles Opfer. Die meisten neutestamentlichen Texte sind zurückhaltend mit Opfer-Kategorien. Jesus wurde ja schliesslich auch nicht als Opferlamm auf einem Altar geschlachtet, sondern als Verbrecher an einem Kreuz hingerichtet. Johannes der Täufer nennt Jesus das «Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt», so wie der Ziegenbock am Versöhnungstag. Paulus spricht von Christus als dem «Passa-Lamm», das für uns geschlachtet wurde. Alle Evangelien ausser Johannes überliefern zusammen mit Paulus die Einsetzungsworte für das Abendmahl, wonach Jesu Blut als Blut des neuen Bundes vergossen wurde, nach Matthäus sogar zur Vergebung der Sünden. Aber erst im Hebräerbrief wird die kultische Opfersprache ausgiebig und zentral verwendet. Jesus wird dort als der ewige Hohepriester präsentiert, der sich selber als letztgültiges Opfer darbringt, ein für allemal.

... und in der Kirchengeschichte

Schon sehr früh wurde diese Bildsprache in der Kirche aufgenommen und auf die Eucharistie bezogen, die man als Repräsentation und Vergegenwärtigung dieses gültigen Opfers Jesu verstand, dargebracht von einem (irdischen) Priester. Das Christentum hatte somit wieder ein (unblutiges) Opfer als Herzstück seines Gottesdienstes.

Im 16. Jahrhundert liefen die Reformatoren Sturm gegen dieses Verständnis, das in ihren Augen die Gültigkeit des einmaligen Opfers von Jesus untergräbt oder gar versucht, Gott zu manipulieren. Nicht wir sind die Gebenden – sondern Gott schenkt sich uns, betonten sie. Gross war dabei auch das Misstrauen, dass Gott einmal mehr mit einer religiösen Geste abgespeist wird. Die Reformatoren empfanden das Ritual als Feigenblatt, mit dem Menschen ihren Ungehorsam und die mangelnde Nächstenliebe kaschieren. Gott aber wolle uns ganz – und ganz besonders unseren Dienst am Nächsten. Die alttestamentlichen Propheten lassen grüssen! Besonders in den reformierten Kirchen wurde darum der Altar zum Tisch des Herrn und das Abendmahl zu einer ernsten Verpflichtung zum gottgefälligen Handeln.

Bei allen Stärken dieses Modells, das verstehenden Glauben und gehorsames Handeln betont, besteht die Gefahr, dass Religion sich in Ethik erschöpft – und das im wörtlichen Sinne! Erschöpfte Christinnen und Christen gibt es dann, wenn in gottesdienstlichen Feiern und Ritualen zu wenig Gottes grosses und unwiderrufliches Geschenk gefeiert wird, aus dem heraus und in das hinein wir alle unsere Opfer und Gaben legen können. Und ohne herausgehobene Rituale kann leicht vergessen gehen, wer die Quelle unseres Lebens ist. Es gibt zu denken, dass die säkulare Weiterentwicklung des Opfer-Begriffs fast nur noch die Kosten, das Leiden und den Verzicht in den Vordergrund stellt.

Wie wir das Opfern heute verstehen können

Sollen wir den Begriff «Opfer» aufgeben, der im Gegensatz zum Englischen «sacrifice» so einseitig scheint? Vielleicht. Und vielleicht drückt das schöne deutsche Wort «Hingabe», für das es im Englischen nicht so wirklich eine Übersetzung gibt, besser aus, worum es beim biblischen Opfer geht. Gott hat sein Liebstes und Bestes, seinen Sohn für uns hingegeben, sagt Paulus im Römerbrief Kapitel 8, Vers 32. Dies ist kein patriarchales Abstrafen eines passiven Opfers im Sinne von «victim», das uns beschämen und unter Druck setzen soll. «Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?», fährt Paulus nämlich überraschend weiter. Christus ist nicht das passive Opfer, er ist das unwiderrufliche Geschenk Gottes in der tiefsten Tiefe unserer Welt. Was die Christinnen und Christen angeht, so dürfen sie ihr Leben nun als «lebendiges Opfer» darbringen. Es ist nicht ein erlegtes Tier, das schlaff auf dem Altar liegt, sondern ein lebendiger Mensch, der auf dem Altar tanzt – oder vielleicht um den Altar herum, zusammen mit anderen.

Opfern im biblisch-alttestamentlichen Sinn bedeutet, konkrete Teile des Leben zu heiligen, damit wir den Gottesbezug von allem Leben im Alltag nicht vergessen. Opfern im neutestamentlichen Sinn bedeutet, Hingabe zu leben – aus Gottes Hingabe in Christus heraus. Diese Aspekte gingen eigentlich nie ganz verloren, nicht einmal im opfer-kritischen Protestantismus: Der Sonntag wird geheiligt, um deutlich zu machen, dass alle Zeit Gott gehört. Der Zehnte wird entrichtet, um deutlich zu machen, dass all unser Besitz Gott gehört. In erwecklichen Kreisen kennt man den «Altarruf», obschon so ein Möbelstück weit und breit nirgends zu sehen ist! Da wird eingeladen zur ganz grossen Geste der Hingabe des eigenen Lebens.

Empfangen und Schenken

«Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben», dichtet Paul Gerhardt an der Krippe des Christus-Kindes stehend. Empfangen und Geben fallen zusammen. Unsere Hingabe oder unser «Opfer» braucht dieses Innehalten und Staunen. Es muss der Anbetung des Gottes entspringen, der alles für uns gegeben hat. Es muss in der gegenseitigen Liebe in der Kirche Christi gelebt werden, wo ich mir auch mal was schenken lasse und nicht nur immer gebe. «Es geht doch nicht darum, dass die einen verarmen und die anderen reich werden – ein Ausgleich ist gefragt», bemerkt Paulus im 2. Korintherbrief 8, Vers 13-15 in seinem energischen Kollekten-Aufruf.

Und es muss deutlich werden, dass auch die schmerzhaften Opfer, so sie denn nötig sind, im Zeichen des Lebens und der Auferstehung stehen. Sonst wird aus Aufopferung Bitterkeit und aus Hingabe ein liebloser Krampf. Denn – selbst die grössten Opfer nützen ohne Liebe gar niemandem etwas, sagt Paulus provokativ in 1. Korinther 13, Vers 3.

Vielleicht können wir neu den Gottesdienst und besonders das Abendmahl als den Ort entdecken, wo Empfangen und Schenken zusammenfallen, wo wir uns mit Christus eins machen, und wo wir unser Kleingeld zu diesem unerschöpflichen Goldgrund bringen, im Vertrauen darauf, dass es Gott gefällt.

Zum Originalartikel beim Forum Integriertes Christsein.

Zum Thema:
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Datum: 11.08.2022
Autor: Dorothee Bertschmann
Quelle: Forum Integriertes Christsein

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