Todsünde oder Tugend?
Henning Theissen: «Über den Stolz»
Stolz ist ein ambivalentes Gefühl. Es kommt zu Fehlentwicklungen, wenn er uns beherrscht, aber genauso, wenn er fehlt. Das Buch «Über den Stolz» bietet eine hilfreiche und differenzierte Auseinandersetzung damit.
«Ich bin stolz auf meine Demut!» Auf diese ironische Formel bringen manche Christen ihre Einstellung zum Thema Stolz und erklären damit: Eigentlich gehört sich Stolz nicht, das Ziel einer christlichen Grundhaltung sollte vielmehr Demut sein. Heisst es nicht bereits im Alten Testament in Sprüche, Kapitel 18, Vers 12: «Vor dem Zusammenbruch wird das Herz des Menschen hochmütig, aber vor der Ehre kommt die Demut.». Diese gilt im Gegensatz zum Stolz als Tugend.
Das war jedoch nicht immer so, denn in der Antike galt Stolz durchaus als eine Tugend. Erst der Theologe Augustinus klassifiziert ihn als prinzipiell böse. In der katholischen Kirche gilt Stolz als eine der sieben Todsünden bzw. nach Thomas von Aquin als eine der «Wurzelsünden», aus denen anderes Fehlverhalten erwächst.
Eine differenzierte Sicht
Besteht zwischen diesen Sichtweisen ein Widerspruch? Zumindest eine starke Spannung, stellt Henning Theissen fest. Gleichzeitig betont er, dass der Begriff Stolz allein nicht ausreicht, um über ihn nachzudenken und ihn zu bewerten – es geht auch darum, wer stolz ist, worauf und was der Grund dafür ist. Ein Selbstlob, das Gottes Handeln der eigenen Leistung zuschreibt, fällt durchaus in die Kategorie des falschen Rühmens, die Paulus an vielen Stellen beschreibt (siehe 1. Korinther, Kapitel 1, Vers 31). Hier und in theologischen, psychologischen und philosophischen Zusammenhängen erarbeitet Theissen eine Grundlage, die von der persönlichen Auseinandersetzung bis hin zur fachwissenschaftlichen Diskussion vieles ermöglicht.
Praktisch und theoretisch
Wenn der Theologe gleich zu Beginn als eingängiges Beispiel für Stolz das deutsche Fussballmärchen 2014 mit dem Slogan «Wir sind Weltmeister» zitiert, dann zeigt er die lebenspraktische Bedeutung des Themas auf. Diese setzt sich ja auch darin fort, ob Eltern ihren Kindern vermitteln können (oder wollen), dass sie stolz auf sie sind. Die Pole einer Selbstüberschätzung und einer gesunden Selbstachtung spricht er immer wieder an. Dabei ist das Buch kein Praxisratgeber. Der Essay soll stattdessen zur «Annäherung an eine riskante Tugend» führen (so der Untertitel), und dies geschieht in erster Linie auf theoretischer Ebene.
Viele der Gedankengänge sind nachvollziehbar, wirken aber fremdartig, weil Tugendethik normalerweise nicht zu den Themen gehört, die man am Stammtisch oder auch nach dem Gottesdienst bei einer Tasse Kaffee bespricht. Die Sprache des Buchs erleichtert den Zugang zu diesem alltagsrelevanten Thema nicht besonders. Sie ist zwar nicht extrem fachsprachlich geprägt, doch man darf sich nicht an Formulierungen wie «gendertheoretische Überwindung von Heteronormativität» stören.
Fazit
Stolz ist nicht nur schlecht. Stolz ist aber auch nicht die moderne Alternative zu Demut. In jedem Fall lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld, in dem sich ein gesundes Selbstbild entwickeln kann. Der Essay «Über den Stolz» bietet all denen, die einen anspruchsvollen Einstieg suchen, eine gute Grundlage dazu – inklusive ausführlichem Sach- und Personenregister.
Henning Theissen lehrt Systematische Theologie an der Universität Lüneburg. Mit dem Thema Stolz setzte er sich im Rahmen einer Vorlesung zu Ethik und Theologie auseinander. Die überarbeitete Version erschien jetzt als Buch.
Zum Buch:
Über den Stolz
Zum Thema:
Die (un)heimliche Triebkraft: Hilfe, ich bin stolz!
Köbi Julen: Kein Platz für Stolz – am Berg und im Leben
Drei Typen von Gesetzlichkeit: Wenn Freude mit Stolz im Konflikt steht
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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