Köbi Julen
Kein Platz für Stolz – am Berg und im Leben
Köbi Julen (67), in Zermatt geboren, war jahrzehntelang als Bergführer in den Walliser Alpen unterwegs. Die Schönheit der Natur faszinieren ihn immer wieder aufs Neue. Ein Erlebnis hat ihn aber besonders geprägt.
Der ehemalige Chefredaktor der Regionalzeitung «Walliser Bote», Pius Rieder, berichtete vor acht Jahren über das einschneidende Erlebnis von Köbi Julen. Die «Hope Wallis» publiziert hier Rieders Originaltext und fragt bei Köbi Julen nach, wie er aus heutiger Perspektive auf den März 1986 zurückblickt.
Freeriding in die Todeszone
Auf einer Frühlings-Skitour im März 1986 fuhr Köbi Julen mit einem deutschen Ehepaar in knöcheltiefem Pulverschnee von der Kelle in Richtung Grünsee/Eya. Während es unter ihren Brettern staubte, hörte man selbst in über 300 Metern Entfernung das Kantenrattern der Pistenfahrer. Kein Vergleich zum Tiefschneevergnügen durch die Wälder auf der Gegenseite. «Man muss ja wissen, wo man Ski fährt», war ein berechtigter Gedanke Julens, der seiner langjährigen Kundschaft ein besonderes Vergnügen bieten wollte und sich dabei wie der Platzhirsch fühlte.
Aus welcher Überlegung auch immer, liess Köbi Julen seinem Gästepaar im unberührten Waldgelände den Vortritt. War es die Vorsehung oder einfach ein göttlicher Wink. «Plötzlich, ohne Vorwarnung und aus heiterem Himmel hörte ich einen 'Chlapf'. Auf einer Breite von zwei- bis dreihundert Metern löste sich eine riesige Lawine», so Julen. «Meine Gäste retteten sich unter einen Baum; ich dagegen wurde von den Schneemassen erfasst und statt eines Pulverschnee-Erlebnisses absolvierte ich auf dem Lawinenzug eine Fahrt in die Todeszone», erinnert sich Julen an den Vorfall, als wär's erst gestern gewesen.
Mit einem abgerissenen Ski kam Julen wie durch ein Wunder auf einer Kante zum Stehen, während die Schneemassen in Richtung Eya/Findelbach zu Tale stürzten. Erste Reaktion: Die Gäste in Sicherheit. Grosse Erleichterung. Danach versuchte Julen die brenzlige Situation nüchtern zu analysieren. Als patentierter Skilehrer und Bergführer bei solchen Bedingungen einen so «geladenen» Hang zu befahren, war ein geballtes Risiko. Zweite Reaktion: Also erst mal leer schlucken, dann die verräterische Skilehrerjacke umdrehen, den zweiten Ski suchen und sich um das Wohl des schockierten Ehepaares kümmern. Für Julen waren diese paar Sekunden in vieler Hinsicht eine göttliche Bewahrung, obwohl er Gott ein bisschen herausgefordert hatte.
Mit der aufmerksamen Rettungsinstanz der Bahn hat er aber nicht gerechnet. Dieser war der Lawinenabbruch nicht entgangen und als im Findelbach ein Ski gefunden wurde, war die Verunsicherung, ob jemand verschüttet worden sei, gross. Über Funk hörte Julen mit, dass sich Bahndirektor Josi Burgener und Rettungschef Bruno Jelk über die Auslösung einer Suchaktion unterhielten. Nicht gerade mit stolzer Brust, aber aus tiefer Berufsethik schaltete sich Julen namenlos kurz ins Netz ein und gab etwas kleinlaut zu, dass seine Gäste in Sicherheit seien und der gefundene Ski ihm gehöre. Bruno Jelk hat dann über das Privatnetz mit Köbi die Aktion gestoppt, ohne die Funkab- und -mithörer. Bergführer unter sich… (Pius Rieder)
In der Zeitung «Hope Wallis» berichtet Köbi Julen, wie er heute über das Erlebnis denkt:
Köbi Julen, seit dem Ereignis, das Pius Rieder so eindrücklich beschrieben hat, sind beinahe vier Jahrzehnte verflossen. Was ging damals in Ihrem Inneren vor?
Köbi Julen: Während ich mit der Lawine in hoher Geschwindigkeit dem Abgrund entgegen raste, spürte ich plötzlich mit untrüglicher Sicherheit, dass Gott mit mir ist. Ich hörte keine akustische Stimme, aber mir war sofort klar, dass Gott in Zukunft «Leben mit mir teilen» will.
Was hat sich in Ihrem Leben verändert?
Die Rückkehr mit meinen Gästen von der Tour, mit nur einem Ski und einem angeschlagenen Image, war alles andere als einfach. Aus Stolz beziehungsweise Verlegenheit hatte ich meine Skilehrerjacke gewendet, um nach dem Debakel nicht als solcher erkannt zu werden. Mein Berufsstolz und meine angeblichen Fähigkeiten wurden mit der Lawine mitgerissen. In dieser Situation der persönlichen Demütigung begegnete mir Gott in seiner Liebe. Ich begann, über mein Leben nachzudenken. Weil er mich durch und durch kennt, brauchte ich mich vor ihm nicht zu verstecken. So wurde es mir möglich, mit ihm und meinen Freunden über meine Schwächen und Stärken zu sprechen.
Sind Sie denn damals ein zu grosses Risiko eingegangen?
Ich würde es so beschreiben: Ich befand mich im Bereich des «Restrisikos». Bis zu diesem Tag habe ich das «Restrisiko» unterschätzt! Speziell in der Verantwortung als Bergführer/Skilehrer sind einem Menschenleben anvertraut und da ist die Frage eines Restrisikos sehr gründlich und vorsichtig abzuschätzen. Seiher habe ich gelernt, nein zu sagen, selbst wenn meine Führerkollegen mal eine Situation anders einschätzen. Ein gesundes Kalkül, eine natürliche Vorsicht, der Blick zum Himmel und der innere Frieden sind für mich zu wertvollen Werkzeugen geworden, die ich bei allen täglichen Entscheidungen einsetze.
Entscheidungen im Alltag, was meinen Sie damit?
Jede Entscheidung, die ich treffe, beeinflusst mich und mein Umfeld. Entscheide ich mich für mein Ego oder für das Wohl anderer? Entscheidungen sind der Punkt in unserm Leben, der unser Sein auf dieser Erde bunt und spannend macht. Hier können wir uns täglich neu positionieren. Entscheidungen als Familienvater, Banker, Politiker, Manager, Pfarrer usw. hinterlassen Spuren. Verantwortung zu übernehmen ist heute gefragter denn je – nicht nur in den Bergen.
Was macht ein pensionierter Bergführer?
Wir alle haben unsere eigene Story. Die «Karriere» von Ulrich Inderbinen, dem ehemaligen Zermatter Bergführer, begann ungefähr in seinem siebzigsten Lebensjahr. Mit 90 stand er ein letztes Mal auf dem Matterhorn! Mein Start als pensionierter Bergführer begann ungefähr mit sechsundsechzig neu.
Und wohin des Weges?
Heute faszinieren mich Wege und Routen, die Geschichte geschrieben haben. Historische Passübergänge, Schmugglerspuren aus dem 2. Weltkrieg sowie Wanderungen auf Suonen-Wegen, den heiligen Wassern entlang. Ich liebe es, in der Natur zu entschleunigen, Grosses und Kleines aus der Schöpfung wahrzunehmen. Ich geniesse es, jetzt Zeit zu haben und freue mich sehr, diese Entdeckungen in der Natur mit Menschen zu teilen.
Dieser Artikel erschien in der Hope-Zeitung Wallis.
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Autor: Florian Wüthrich / Mirjam Fisch
Quelle: Hope-Zeitungen