Plötzlich verwitwet
Ohne den Partner weiterleben
Regula Fluck (74) ist seit viereinhalb Jahren verwitwet. Ihr Mann Lienhard, mit dem sie 40 Jahre verheiratet war, starb nach sechs Krankheitsjahren an einer Form von Frühdemenz. «Es war ein Abschied auf Raten», sagt Regula, «ich musste immer wieder etwas von seiner Persönlichkeit loslassen.»
Die letzten eineinhalb Jahre seines Lebens verbrachte ihr Mann in einem Heim für demente Menschen. Das Pflegepersonal und die Teilnahme an einer Gesprächsgruppe für betroffene Angehörige von Demenzkranken halfen Regula, mit den verschiedenen Stadien der Krankheit umzugehen. «Als er starb, war ich erst mal von einer grossen Last befreit», sagt Regula. Nach der langen Leidenszeit sei sie froh für ihn gewesen, dass er habe gehen dürfen.
Dora Rohner (74) ist seit eineinhalb Jahren verwitwet. Mit ihrem Mann Christof war sie 49 Jahre verheiratet. Er starb viereinhalb Jahre nach einer Krebsdiagnose. «Es war eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen», erzählt Dora. Christofs intensive Auseinandersetzung mit seiner Krankheit, seine offene Kommunikation darüber und der Umstand, dass er seine Erkrankung gut annehmen konnte, machten es seiner Frau leichter, mit allem umzugehen. Nur die letzten Lebenswochen seien schwierig gewesen, als sich der Gesundheitszustand sichtlich verschlechterte und Spitalaufenthalte nötig wurden. In den letzten Tagen waren Dora und die jüngere Tochter ständig beim sterbenden Patienten und alle wurden vom Spitalpersonal und der Spitalseelsorgerin liebevoll begleitet. «Der Übergang in eine andere Wirklichkeit vollzog sich dann ganz leise», sagt Dora.
Erich Brun ist 50 Jahre alt und seit einem Jahr verwitwet. Er war 24 Jahre lang mit Vroni verheiratet und zusammen haben sie fünf Kinder im Alter von 20 bis 10 Jahren. Vroni starb ein Jahr nach einer Krebsdiagnose. «Es war ein schönes Jahr», sagt Erich. Denn zusammen seien sie im Glauben an ein Wunder, an dem sie bis zuletzt festgehalten hätten, gewachsen. «Ich hinterfrage aber Gottes Entscheid nicht», meint Erich. Warum Vroni nicht geheilt wurde, bleibe für ihn eine offene Frage. Die Zuversicht aber, dass es seiner Frau jetzt gut gehe, tröste ihn.
Inmitten der Trauer geborgen
Einen Tag nach der Beerdigung bestieg Erich alleine einen Berg in seiner Nähe und liess seiner Trauer freien Lauf. In allem Schmerz aber wurde er auch dankbar für die guten Jahre, die er mit seiner Frau hatte verbringen dürfen. «Und ich spürte sehr stark Gottes Zusage, dass er für mich in der Zukunft viel Gutes vorbereitet hat.» Erich nimmt sich immer wieder bewusst Zeit zum Trauern. Dann aber wendet er sich wieder den Aufgaben des Alltags zu. Er hat sich entschieden: «Ich will über die Trauer bestimmen, damit die Trauer nicht über mich bestimmt.»
Regula Fluck empfand sehr starke Trauer nach der Diagnose, dass ihr Mann unheilbar erkrankt war und dass ihre gemeinsame Zeit der Pensionierung jetzt eine ganz andere Wendung als die erwünschte nehmen würde. Sie schrie ihren ganzen Schmerz während eines Spaziergangs im Wald heraus. Dann fiel ein Teil der Last von ihr ab. «Ich wusste, Gott ist bei mir, in allem. Und er wird mich Schritt für Schritt durch die unbekannte Zeit führen!»
«Die erste Zeit nach Christofs Tod war geprägt vom Verlust», weiss Dora Rohner. «Seine Abwesenheit war auf Schritt und Tritt spürbar. Er fehlte einfach überall!» Und doch fühlte sich auch Dora in allem Schmerz von Gott getragen. «Ich wüsste nicht, wie es mir ohne das Fundament des Glaubens gehen würde», sagt sie. Sie habe sich lange gefürchtet, ihren Ehepartner zu verlieren. Aber zu erfahren, wie einfühlsam sowohl sie als auch Christof im Sterbeprozess umsorgt worden seien und wie Gott vieles gut gefügt habe, dadurch habe der Tod etwas von seinem Schrecken verloren.
Hilfe von Mitmenschen
Die Verwitweten haben viel Hilfe in der schwierigen Zeit erfahren. Dora Rohner zum Beispiel von ihren drei erwachsenen Kindern ebenso wie von ihren Geschwistern und Nachbarn. Die Tatsache, dass sie und Christof noch vor der Verschlechterung des Krankheitszustands wieder zurück an ihren ursprünglichen Wohnort umgezogen waren, stellte sich als Segen heraus. Dora hat ein gutes persönliches Umfeld, das ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Wegen der durch die Corona-Pandemie bedingten Grenzschliessung hatte ihre jüngere Tochter den Auslandaufenthalt vorzeitig abbrechen müssen. Da ihre Wohnung noch untervermietet war, zog sie noch vor dem Tod ihres Vaters in die elterliche Wohnung und für Dora war es eine grosse Entlastung, nicht alleine zu sein.
Auch Regula Fluck erfuhr sowohl während der Krankheitszeit von Lienhard als auch nach seinem Tod viel Hilfe vonseiten ihrer drei erwachsenen Kinder. «Und ich erlebte es auch, dass Gott mir einen Kreis von Freunden zuführte, die regelmässig mit meinem Mann spazieren gingen, als er noch zuhause wohnte. Das war eine grosse Erleichterung für mich.»
«Meine Verwandten sind mir eine wichtige Stütze», sagt Erich Brun. «Sie sind da, wenn wir sie brauchen. Und sie machen nicht nur leere Worte, sondern ernst gemeinte Angebote.» Er und seine beiden jüngsten, noch schulpflichtigen Kinder dürfen jeden Mittag bei Erichs Schwiegermutter essen gehen. Bei den Nachbarn verbringen die Kinder ihre freien Halbtage. Auch sein Arbeitgeber und seine Arbeitskollegen kommen Erich sehr entgegen. Er durfte während Vronis Krankheit immer wieder freinehmen, um Zeit mit ihr zu verbringen. «Und da sind noch die Menschen in der Kirche, die für uns im Gebet einstehen!»
Den Alltag gestalten
«Es geht mir gut», sagt Erich Brun nach einem Jahr Witwerschaft. «Ich bin glücklich, dass ich für meine Kinder im Alltag da sein kann.» Eine Herausforderung sei manchmal das Zeitmanagement. Zum Beispiel am Morgen müsse alles nach Plan gehen, damit die Kinder rechtzeitig zur Schule kämen und er selber zur Arbeit. Kommt etwas dazwischen, muss er aufpassen, dass er die Ruhe bewahrt. Es sei niemand anderes da, der etwas von den vielfältigen Aufgaben übernehmen könne. Manchmal frage er sich, ob er alles richtig mache, um auch die Kinder in ihrer Trauer zu begleiten. Erich kann jederzeit bei zwei befreundeten Christen, die mit ihm zusammen eine christliche Gemeinde leiten, Rat holen und dazu auch noch bei einem älteren Seelsorger. Darüber ist er sehr froh. «Vor allem aber hole ich mir Rat bei Gott», sagt Erich Brun.
Als Witwe vermisst Regula Fluck vor allem den Austausch im Alltag und die interessanten Gespräche. Sie achtet darauf, dass sie ihre regelmässigen Aktivitäten weiterpflegt, wie das Singen im Chor, das Tanzen in einer Gruppe, Velofahrten in der Natur, Kulturelles, Unternehmungen mit ihren Enkelkindern. Und sie versucht, die Gastfreundschaft zu pflegen. «Alleine zu essen, ist etwas vom Schwierigsten für mich», sagt sie, «vor allem am Sonntag.» Auch falle es ihr manchmal schwer, wenn sie zum Beispiel in den Ferien viele glückliche Ehepaare sehe. «Ich wünschte mir», meint Regula, «dass Ehepaare etwas offener wären und Alleinstehende in ihre Gespräche einbeziehen würden.»
Ferien alleine zu gestalten, bedeutet für Dora Rohner eine besondere Herausforderung. Kürzlich hat sie ein paar Tage Auszeit in einer christlich geführten Pension im Tessin genommen und dabei neue Kontakte geknüpft. «Wenn ich mir etwas Neues zutraue und dabei gute Erfahrungen mache, sind das für mich Lichtblicke», sagt Dora. Zurzeit ist sie daran, sich in einer neuen Kirchgemeinde einzuleben. «Mich interessiert der Austausch mit Menschen. Rückzug ist keine Lösung», meint Dora.
Zukunftsperspektiven
«Ich freue mich grundsätzlich, Neues zu lernen», sagt Dora Rohner. So besucht sie Vorträge an der Seniorenuniversität und liest viel. Und sehr gerne nimmt sie Anteil am Leben ihrer erwachsenen Kinder und ihrer Enkeltochter. «Dann ist auch das Alter mit seinen speziellen Herausforderungen eine Aufgabe für sich», sagt Dora. Diese möchte sie wenn möglich gut bewältigen und eines Tages bereit sein, ihre eigene letzte Reise anzutreten.
Regula Fluck freut sich darauf, nächstes Jahr ihren Sohn, der mit seiner Frau in Afrika lebt, zu besuchen. «Projekte zu haben und sich auf etwas freuen zu können, ist mir wichtig», sagt Regula. Sie wolle nicht in einer Opferrolle versinken und in einer falschen Erwartungshaltung anderen gegenüber leben. «Ich lerne es. Es geht immer besser!», freut sie sich.
Erich Brun ist gespannt, zu sehen, was ihm die Zukunft bringen wird. Die Zuversicht, dass Gott es gut mit ihm meine, gebe ihm Gelassenheit. Durch den frühen Tod seiner Frau habe er gelernt, vermehrt auf das zu schauen, was ihm geschenkt werde. «Nicht auf das, was wir nicht verstehen können. Dieses Leben hier ist nicht so wichtig!», sagt er. «Es gibt mehr, und das liegt noch vor uns!»
Zum Originalartikel von IDEA Schweiz
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Autor: Dorothee Baumgartner
Quelle: IDEA Schweiz
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