Überlebende des Völkermords
«Meine Gedanken wurden von dem Hass geheilt»
Am 6. April 1994 veränderte sich das Leben von Immaculée
Ilibagiza für immer: Nach der Ermordung des Präsidenten
Ruandas begann im Land ein monatelanges Massaker. Etwa eine Millionen
Menschen fanden den Tod. Ilibagiza überlebte den Völkermord – ihre
Familie nicht. Im Interview spricht die Ruanderin darüber, warum sie
vergeben konnte.Frau Ilibagiza, Sie gehören zur Volksgruppe der Tutsi. Wann haben Sie begriffen, dass dies Ihr Todesurteil bedeuten könnte?
Immaculée
Ilibagiza: Alles hat mit Propaganda angefangen. Im Radio wurde
jahrelang Hass gegen uns Tutsi geschürt. Als dann 1994 das Flugzeug des
Präsidenten abgeschossen wurde, hat mein Bruder mich direkt geweckt. Mir
war klar: Die Hutu, also Menschen der Volksgruppe, zu der auch der
Präsident gehörte, würden kommen und uns alle umbringen. Und so war es
dann auch. Noch in dieser Nacht ging das Morden los. Das Militär und ein
Grossteil der Hutu haben ganz systematisch Familie für Familie der Tutsi
ausgerottet.
Ihre gesamte Familie in Ruanda wurde ermordet – Ihre Eltern, zwei Brüder, Cousins, die Grosseltern. Wie haben Sie überlebt?
Ich
habe mich versteckt. Ein evangelischer Hutu-Pastor in unserer
Nachbarschaft hat mich und sieben andere Frauen in eine kleine Toilette
gepfercht. Der Raum war sehr eng, nur etwa eine mal 1,20 Meter gross.
Wir sassen buchstäblich übereinander – mehr als drei Monate lang! Wir
haben nicht gewusst, was draussen passiert, und wir durften nicht
sprechen. Seinen Kindern hat der Pastor erzählt, er hätte die Schlüssel
für das Klo verloren.
Hatten Sie Angst?
Die
erste Woche war richtig schrecklich. Ich hatte überall Schmerzen. Und
ich war so wütend, dass ich dachte, die Wut würde mich umbringen. Mein
Herz hat laut gepocht und ich habe gezittert und geschwitzt. Es war
wirklich schlimm. Am liebsten wollte ich Granaten über dem Land abwerfen
und alle töten, die uns das angetan haben.
Wie hat Ihnen der Glaube an Gott in dieser Zeit geholfen?
Die
Hutu haben damals angefangen, die Häuser zu durchsuchen. Da ist die Wut
irgendwann in Angst umgeschlagen. Als sie das erste Mal zu uns kamen,
dachte ich: Jetzt ist mein Leben vorbei. Und weil ich katholisch
aufgewachsen und erzogen worden bin, habe ich mich gefragt, wie der Tod
sein würde. Wie würde sich das anfühlen, wenn meine Seele aus dem Körper
geht? Würde ich Jesus sehen? Würde ich meine Familie sehen? Ich habe
dann einfach angefangen zu beten. Ich habe Gott gesagt: «Wenn es dich
wirklich gibt – wenn du mich hören kannst –, dann gib mir ein Zeichen;
dann mach, dass diese Mörder die Toilettentür zumindest heute nicht
öffnen.»
Und? Hat es funktioniert?
Ja!
Der Pastor, der uns versteckt hatte, beschrieb uns hinterher, dass das
ganze Haus durchsucht wurde, sogar im Speicher und auf dem Dach waren
die Männer. Aber kurz bevor sie die Toilette öffnen wollten, sind sie
gegangen. Einfach so. Als der Pastor das erzählte, bin ich total
erschrocken. Nicht, weil wir fast gestorben wären, sondern weil ich
jetzt wusste, dass es Gott wirklich gibt.
Wann haben Sie sich entschieden, den Mördern zu vergeben?
Das
hat ein bisschen gedauert. Ich habe in diesem Badezimmer viel in der
Bibel gelesen. Aber da kamen so Passagen wie «Bete für deine Feinde»,
«Liebe, die dich hassen» und «Du sollst sieben mal siebzigmal vergeben».
Ich wusste, das kann ich nicht. Also habe ich die Bibel schnell wieder
zugeschlagen. Ich hatte ausserdem einen Rosenkranz von meinem Vater
dabei, den habe ich dann gebetet. Aber auch da gab es Probleme: Beim
Rosenkranz betet man innerhalb von 25 Minuten sechsmal das Vaterunser.
Und da gibt es diesen schwierigen Teil: «Vergib uns unsere Schuld...»
... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Genau!
Und das konnte ich nicht aussprechen. Also habe ich diesen Teil des
Gebets einfach übersprungen. Ich wollte Gott nicht anlügen. Ich habe
mich dann auch gleich viel besser gefühlt. Aber eines Tages ist mir der
Gedanke gekommen – ich hatte dort wirklich viel Zeit zum Denken –, dass
das Vaterunser nicht von einem Menschen geschrieben wurde, sondern von
Jesus selbst. Da kann man das ja nicht einfach abändern. Also habe ich
wieder das Original gebetet, aber bei der entscheidenden Stelle habe ich
Gott immer gesagt: «Ich meine das noch nicht ernst. Ich kann noch nicht
vergeben. Aber ich will. Hilf mir!»
Sie würden also sagen, dass Vergebung für Sie ein schwieriger Prozess war?
Ich
habe in dieser Zeit immer wieder Bibel gelesen. Ich habe von Jesus
gelesen, der am Kreuz hängt. Ich habe darüber nachgedacht, wie
schmerzhaft das sein muss – er hatte Nägel im Körper! Und als ich dann
weitergelesen habe, kam etwas, das mein Herz zerbrochen hat. Die letzten
Worte von Jesus waren: «Vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was
sie tun.» Vor allem der zweite Teil hat mich getroffen. Es war genauso
wie bei uns im Land. Die Mörder haben nicht verstanden, was für
Konsequenzen ihre Taten für die Familien und für das Land haben. Damals
habe ich beschlossen, wie Jesus den Tätern zu vergeben. Ich hatte das
Gefühl, dass mir ein grosser Felsbrocken von den Schultern genommen
wurde. Meine Gedanken wurden von dem Hass geheilt und ich konnte
allmählich meine Wut loslassen.
Konnten die Frauen, mit denen Sie eingesperrt waren, Ihre Entscheidung zur Vergebung nachvollziehen?
Die
haben davon gar nichts mitbekommen. Wir durften in der Toilette ja
nicht reden, wir kannten nicht mal unsere Namen. Erst nach der
Veröffentlichung meines Buches 2006 hat eine amerikanische Talkshow die
Frauen gesucht und uns alle wieder in dieses Bad gebracht. Die meisten
Frauen konnten mich nicht wirklich verstehen. Und eine von ihnen war
sehr wütend, als sie meine Geschichte hörte. Sie fragte mich immer
wieder: «Hast du vergessen, was sie uns angetan haben? Wie kannst du
diesen Mördern vergeben?»
Was haben Sie geantwortet?
Wissen
Sie, wir haben manchmal ein seltsames Verständnis von Vergebung. Wir
denken, Vergebung bedeutet zu sagen: «Was die gemacht haben, war okay.»
Aber das ist Quatsch! Vergebung war etwas, das ich für mich gemacht
habe. Es war, wie aus einem Gefängnis rauszukommen und endlich frei zu
werden. Und obwohl ich vergeben hatte, fand ich es ja trotzdem gut, dass
die Mörder im Gefängnis waren. Das Töten und der Wahnsinn mussten
aufhören. Und das Gefängnis war für diese Menschen eine Chance, sich zu
verändern.
Was ist passiert, als Sie Ihr eigenes Gefängnis – das Klo – nach fast 100 Tagen endlich verlassen konnten?
Als
wir die Toilette verlassen durften, war ich ein Skelett. Ich habe etwa
30 Kilo gewogen. Ich bin direkt zu einem Flüchtlingscamp, weil ich
gehofft habe, dass jemand aus meiner Familie überlebt hat. Aber alle
waren tot. Alle. Überall lagen Leichen. Es war schrecklich. Ich habe so
sehr geweint. Ich habe sogar meinen Rosenkranz weggeworfen, weil ich den
Trost nicht spüren wollte, den ich in der Toilette beim Beten immer
empfunden hatte.
Hätten Sie Ihre Entscheidung zur Vergebung in diesem Moment gerne rückgängig gemacht?
Niemals.
Als ich aus der Toilette raus bin, sagten mir richtig viele Leute: «Was
du erlebst hast, war nicht echt, du hast dem Mörder deiner Familie
nicht wirklich vergeben.» Sie meinten, das war nur eine Strategie, um zu
überleben. Und da bekam ich Angst. Ich dachte, vielleicht bin ich ja
wirklich traumatisiert, vielleicht haben die Leute recht und das alles
war bloss Einbildung. Aber ich wollte ehrlich wissen, woran ich bin. Also
besuchte ich den Mörder meiner Familie im Gefängnis. Als ich ihn
gesehen habe, war mir sofort klar: Die Vergebung war echt. Ich fing an
zu weinen, weil ich so viel Mitleid spürte. Der Mann sah schrecklich
aus. Er war monatelang nicht rasiert, hatte Essensreste im Bart und
abgerissene Kleidung. Er stank. Und ich musste wieder an den Satz
denken: «Denn sie wissen nicht, was sie tun.»
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Autor: Sara Kreuter
Quelle: PRO Medienmagazin | www.pro-medienmagazin.de
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