Eine «normale Familie»

Mit über 130 Kindern

Viele christliche Paare wünschen sich Kinder – bekommen aber keine oder nicht so viele, wie sie erhofften. Auf der anderen Seite gibt es 90'000 Kinder in Deutschland, die in Heimen leben und sich meist nichts sehnlicher als eine Familie wünschen.

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Marga und Gerhard Beyer
Eine Chance für Christen, sich dieser Kinder anzunehmen. Klaus Rösler porträtiert ein hessisches Pfarrerehepaar, das über 130 Pflegekindern ein Zuhause gegeben hat: Marga und Gerhard Beyer in Neustadt (bei Marburg).

Der 14-jährige Justin sagt «Vatter» zu Gerhard Beyer (71). Dessen Frau Marga ist für ihn die «Oma». Dem Ehepaar macht diese unterschiedliche Bezeichnung nichts aus. Gerhard Beyer erläutert: «Der gehört zu uns.» Der – das ist ihr Pflegesohn, der seit 2009 bei ihnen lebt.

Wichtiger ist den beiden, dass sie den Jungen positiv prägen – auch durch eine christliche Erziehung. Hin und wieder trifft sich Justin auch mit seinem leiblichen Vater. Den nennt er «Papa». Wenige Augenblicke später: Die 20-jährige Christin kommt von ihrem Dienst in einem Krankenhaus in Marburg zurück: «Das ist Christin – die gehört zu uns.»

Sie hat ihre Pflegeeltern gebeten, während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres zur Vorbereitung auf ihr Medizinstudium weiter in Neustadt wohnen zu können. Sie durfte bleiben. Die beiden jungen Leute berichten kurz, wie ihr Tag bisher war. Dann ziehen sie sich in dem 103 Jahre alten, renovierten Fachwerkhaus in ihre Zimmer zurück.

Sie sind die letzten Pflegekinder des Ehepaares, das sagt: «Wir sind eine völlig normale Familie.» Aber das seien sie auch früher gewesen. In den zurückliegenden gut 40 Jahren haben sie über 130 Kinder betreut – neben ihren eigenen zwei: «Wir waren eine grosse Familie.» Sechs bis acht Pflegekinder waren immer bei ihnen. Manche sind nur einige Wochen geblieben, andere ihre ganze Kindheit und Jugend über – und zählen bis heute zur Familie.

Liebe und Zuneigung weitergeben

Woher kommt diese Kinderliebe? Beide Eheleute stammen aus einem christlichen Elternhaus. Schon als Verlobte beschliessen sie, nicht nur eigene Kinder haben zu wollen, sondern auch Pflegekinder. Kindern das geben, was ihnen fehlt – nämlich Liebe und Zuneigung: Darin sehen sie eine Lebensaufgabe. Doch so einfach ist das nicht vor einem halben Jahrhundert: Sie müssen zuerst aufs Jugendamt – dann weiter zum Gesundheitsamt, das überprüft, ob sie ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose haben. Schliesslich werden sie als Pflegeeltern akzeptiert.

Neun Monate, nachdem ihr Sohn geboren wurde, kommen die ersten zwei Pflegekinder. Ihre Mutter muss eine Gefängnisstrafe absitzen. Und die beiden sollen nicht ins Heim. Also kommen sie zum Ehepaar Beyer in den Neustädter Ortsteil Speckswinkel. Dort arbeitet Gerhard Beyer damals noch in der Tischlerei seines Vaters. Für die ersten Kinder ist der Aufenthalt in der Familie kaum mehr als ein Ferienlager. Als die Mutter nach vier Monaten wieder entlassen wird, kehren auch die Kinder wieder heim.

Weitere Jungen und Mädchen kommen. Obwohl die meisten noch im Vorschulalter sind, haben sie alle bereits schwere Erfahrungen hinter sich. Sie wurden verprügelt, misshandelt, sexuell missbraucht. Ihre Eltern sind mit der Erziehung überfordert, oder sie haben schlicht kein Interesse an ihnen.

Beim Ehepaar Beyer ist das anders: Jedes Kind ist eine Bereicherung und eine neue Herausforderung. Es sind keine «Fälle», sondern «Geschöpfe Gottes». Nach zwei Jahren bekommt das Ehepaar eine eigene Tochter. Kinder wie Pflegekinder wachsen wie Geschwister auf. Auch in der Schule behaupten sie, Geschwister zu sein – trotz unterschiedlicher Nachnamen.
«Ihr ward immer für uns alle da»

Sind die eigenen Kinder nicht zu kurz gekommen?

Diese Frage hat die Mutter auch ihren Kindern gestellt. Die Antwort beruhigt sie: «Mach dir keine Gedanken, Mama. Ihr ward immer für uns alle da!» In der Familie gibt es feste Zeiten und Rituale. Die Familienandacht gehört dazu wie auch das Singen von Schlafliedern am Bett. Es gibt gemeinsame Mahlzeiten am Tag.

«Da waren wir jahrelang 14 Personen am Tisch!», erinnert sich Marga Beyer. Denn auch ihr Vater lebte in der Familie und eine Haushaltshilfe, die die Familie unterstützte. Auch Urlaubsreisen sind möglich. Die Familie besitzt zwei geräumige Autos. Eins lenkt der Vater, eins die Mutter. Die weitesten Reisen führen bis in eine Appartementanlage in Kroatien, andere an die Nordsee oder in den Taunus. Einen Hotelaufenthalt kann sich die Familie aber nicht leisten – das wäre zu teuer gewesen.

Wer mehr als vier Pflegekinder betreut, ist nach Sicht der Behörden eine «Grosspflegestelle». Sie steht unter der besonderen Kontrolle des Landesjugendamtes. Das heisst: Es gibt unangemeldete Kontrollen schon morgens um 8 Uhr oder abends um 20 Uhr.

Doch nie ist etwas zu beanstanden. Zudem werden die Pflegeeltern gezielt für ihren Dienst fortgebildet. Die Kurse im nordhessischen Dörnberg sind für das Ehepaar eine echte Bereicherung: «Wir haben pädagogisch sehr viel gelernt.» Wenn der Vater Pfarrer wird Ein besonderer Einschnitt im Leben der Familie ist die berufliche Neuorientierung von Gerhard Beyer: Er fühlt sich in den Pfarrdienst berufen.

«Pfarrer sein – das ist mein Traumberuf», sagt er. Er holt das Abitur nach, studiert Theologie. Er weiss, dass er seine Frau mit dieser Entscheidung fast zu einer Alleinerziehenden macht. Während des Studiums ist er nur am Wochenende zu Hause. Doch Marga Beyer steht hinter den Plänen ihres Mannes.

Der Vater tritt schliesslich eine Pfarrstelle in Wabern-Hebel (Nordhessen) an. Die Familie zieht mit ihm um ins Pfarrhaus. Die Erwartungen des neuen Pfarrers an den Beruf – für andere Menschen da zu sein, Freuden und Nöte mit ihnen zu teilen, ihnen zu helfen, ihnen von der Liebe Gottes weiterzusagen – gehen allesamt in Erfüllung.

Die anfänglichen Sorgen mancher Gemeindemitglieder, ob der Pfarrer bei so vielen Kindern überhaupt genügend Zeit für seine «Gemeindeschäfchen» habe, erweisen sich schnell als unberechtigt. Und als der Geistliche nach Jahren im Kirchenvorstand anklingen lässt, es sei an der Zeit für einen Gemeindewechsel, wird er regelrecht bedrängt: «Bleib doch bitte!» Gerhard Beyer zehrt sich für seine Gemeinde auf – bis er keine Kraft mehr hat und 2003 mit 63 in den Vorruhestand geht. Das Ehepaar kehrt nach Speckswinkel zurück.

Die «Notfallkinder»

Mitte der 80er Jahre sind sowohl die eigenen Kinder wie die Pflegekinder – es waren bis dahin etwa 30 – erwachsen und haben das Haus verlassen. Was nun? Marga Beyer entscheidet sich, «einfach weiterzumachen» – denn die Kinderbetreuung macht ihr Spass. Und es kommt eine weitere Aufgabe auf die Beyers zu – das Pfarrhaus wird zur «Bereitschaftspflegestelle»: Wenn in einem Notfall kurzfristig Kinder untergebracht werden müssen, ist das Pfarrhaus offen.

Mal greift die Polizei mitten in der Nacht einen 12-Jährigen auf, der irgendwo aus einem Heim ausgerissen ist und auf die Schnelle eine Bleibe braucht. Mal wird an einem Sonntag ein Säugling vorbeigebracht, dessen Mutter Alkoholikerin ist. Eigentlich ist das Kind genügsam und ruhig – doch wenn es sich einnässt, fängt es jedes Mal an zu brüllen. Als sich Marga Beyer nicht mehr zu helfen weiss, geht sie zum Arzt.

Der stellt fest, dass das Kind am ganzen Po Brandblasen hat. Die Mutter hat ihr Kind offenbar mit seinem nackten Hintern auf den Herd gesetzt! Mal wird ein Junge gebracht, der an den Armen schreckliche Exzeme hat. Doch die vermeintliche Hauterkrankung ist nichts anderes als Dreck – der Junge ist wochenlang nicht gewaschen worden. Nach drei Wochen ist seine Haut wie verwandelt.

Eigentlich sollten die «Notfallkinder» jeweils nur wenige Tage bleiben, doch einigen gefällt es so gut, dass sie um eine Verlängerung bitten. Bis zum Jahr 2000 wird das Pfarramt für weitere 98 Kinder ein Zuhause auf Zeit. Auch schwere Erfahrungen bleiben nicht aus. Mit zwei geistig behinderten Kindern kommt das Ehepaar nicht zurecht. Diese Kinder müssen zurück ins Heim.

Mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt

1991 wird Marga Beyer für ihren grossen Einsatz mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Die ganze Familie freut sich über diese unerwartete Ehrung. Das Ehepaar wiegelt eher ab. Sie hätten doch «einfach den Willen Gottes umgesetzt»: «Wir hatten und haben ein schönes und erfülltes Leben!» Nach dem Burn-out im Pfarrdienst ist Gerhard Beyer inzwischen wieder zu Kräften gekommen. Und auch seine Frau ist beschäftigt. Sie strickt Socken – für das erste «Urenkelkind», das Enkelkind einer Pflegetochter, die acht Jahre lang bei ihnen lebte.

Auch bei ihrer Hochzeit und bei der Taufe ihres Kindes waren Beyers mit dabei – «eben wie eine ganz normale Grossfamilie». Für Eltern, die auch Pflegekinder bei sich aufnehmen möchten, haben Beyers viele Tipps parat: «Man darf sich nicht zu hohe Ziele setzen! Denn nicht jedes Kind wird so, wie man sich das wünscht.» Wichtig seien vor allem viel Verständnis und viel Geduld.

Sie raten zu einem «erzieherischen Mittelweg»: Man dürfe den Kindern nicht alles durchgehen lassen – doch bei jedem Regelverstoss das Strafgericht zu predigen, sei ebenfalls falsch. Wie so häufig sei die Goldene Regel Jesu (Matthäusevangelium 7,12) auch in der Kindererziehung richtig: «Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst!»

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Datum: 09.02.2012
Autor: Daniel Gerber
Quelle: ideaspektrum

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