Sexologin Veronika Schmidt
«Sexualität ist die intensivste Form der Kommunikation»
Wie erleben Paare eine gute Sexualität? Ist der Frust vorprogrammiert? Die Systemische Paarberaterin, Klinische Sexologin und erfolgreiche Bloggerin Veronika Schmidt schreibt Bücher über lustvollen Sex. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen.Veronika Schmidt, Sie sind systemische Beraterin, wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Beratungsarbeit?
Veronika Schmidt: Schwerpunktmässig ist es inzwischen das Thema Sexualität, aber natürlich auch im Kontext der Paarbeziehung. Meine Beratungsarbeit umfasst alle Themen rund um Paare und Familien. Paarberatung, Erziehungsberatung, Einzelberatung und auch die Beratung ganzer Familien.
Sie bezeichnen sich auch als Sexologin. Wie sind Sie darauf gekommen, sich gerade auf dieses Thema zu spezialisieren? Wollten Sie ein Tabuthema aufbrechen?
Die Motivation für meine Ausbildung dazu bestand nicht darin, ein Tabuthema aufzubrechen. Aber dazu ist vor allem meine Vortragsarbeit inzwischen sicher geworden. Die Sexualität war aber bei meinen Beratungen, egal welcher Zielgruppe, immer wieder Thema. Ich wollte mich dafür weiterbilden, ahnte aber noch nicht, was schliesslich daraus werden sollte. Das Kriterium für die Weiterbildung war: Was ist am meisten gefragt? Und auch: Was ist besonders in der christlichen Szene vonnöten? Sexualberater kann man dort an einer Hand abzählen.
Wo liegen die Probleme heute mehrheitlich, bei Singles oder bei Paaren?
Das grösste Problem bei Paaren ist eigentlich die Unlust, sowohl bei Frauen wie bei Männern. Das Cliché, dass nur Frauen keine Lust auf Sex haben, stimmt nicht. Viele Paare realisieren, dass ihre Beziehung leidet, wenn die Sexualität nicht stattfindet. Untreue ist eher ein Nebenthema. Singles äussern eher den Wunsch, überhaupt einen Partner zu bekommen und mit der eigenen Sexualität umzugehen.
Wie ist der Zusammenhang zwischen gelingender Sexualität und gelingender Paarbeziehung?
Sex ist wichtig für die Beziehung, weil sonst oftmals die Nähe zueinander verloren geht. Wer Sex erlebt, berührt sich häufiger immer wieder mal oder küsst sich. Man sucht sich gegenseitig. Wenn Paare die Sexualität vernachlässigen, leiden oft aber nicht beide gleichermassen darunter, sondern nur einer der Partner. Dann werden Probleme wie das fehlende gegenseitige Gespräch plötzlich zu einem Riesenproblem.
Spricht dann der Partner, der das besonders vermisst, oft gar nicht mehr darüber?
Ja, viele resignieren, weil sie schon so oft mit ihren Bedürfnissen beim Andern abgeprallt sind. Oft kommt dann ausgerechnet der Partner, der gerne wenig Sex hat, in die Beratung, weil er oder sie merkt, dass die Beziehung leidet und eine Änderung wünscht.
Haben glückliche Paare immer auch guten Sex?
Nein. So, wie einige Paare – mit einem kleinen Wehrmutstropfen – auch ohne Sex glücklich sein können, hat ein glückliches Paar nicht automatisch befriedigenden Sex. Es ist ein Lernfeld, auf dem man übt oder es brachliegen lässt. Wenn beide wenig Bedürfnis nach Sex haben, haben sie auch kein Problem. Ein Problem ergibt sich, wenn das Bedürfnis einseitig ist. Ein Schlüssel ist das gute gemeinsame Gespräch. Viele, die keine gute Sexualität erleben, haben auch ein Kommunikationsproblem. Wer gut miteinander reden kann, ist ein glückliches Paar. Sexualität ist aber die intensivste Form von Kommunikation. Wer gut miteinander kommuniziert, hat auch erfüllte Sexualität oder findet den Weg dazu.
Ein weiterer wichtiger Schlüssel ist das sexuelle Know-how. Es gibt in der Sexualität viel Erweiterungspotenzial. Sexualität ist lernbar und man kann ein Leben lang dazulernen. Wir wollen in der Regel nur den Sex wiederholen und erneut haben, den wir auch geniessen. Also ist die Frage, wie kommen wir als Paar zu einer Sexualität, die wir beide geniessen können.
Sex wird heute häufig auch ausserhalb der Ehe gesucht. Dazu tragen vor allem Angebote im Internet bei.
Ich glaube, dass diese Annahme täuscht. Der häufigste Sex findet laut Untersuchungen immer noch in festen Partnerschaften statt. Aber ja, von der Versuchung fremdzugehen, sind Frauen wie Männer betroffen. Es beginnt nach meiner Erfahrung oft ziemlich harmlos. Die Leute gehen nicht gleich auf ein Seitensprung-Portal, wie Medien suggerieren. Es kann mit einem Chat auf Facebook beginnen, oder nachdem man einen alten Bekannten an der Klassenzusammenkunft getroffen hat und sich danach schreibt. Sie erlebt dann vielleicht, dass der Klassenkamerad ihre Probleme gut versteht. Und irgendwann kommt es dann zum Sex. Grösser ist aber die Gefahr, dass man über soziale Netzwerke emotional fremdgeht. Das ist heute in den Beratungen ein grosses Thema. Man spricht von virtueller Untreue, die irgendwann auch zur sexuellen Untreue wird.
Bis die Partnerin oder der Partner Verdacht schöpft?
Die Sache fliegt oft auf, wenn der Partner Verdacht schöpft und die Internetkontakte des Andern ausspioniert. Das kann aber nicht der Weg sein, das Problem zu lösen. Es zeigt mehr die Hilflosigkeit auf, mit der die Leute mit Beziehungsproblemen umgehen.
Wie helfen Sie diesen Paaren?
Das Thema ist die ganze Paarbeziehung und wie es zu diesem Verhalten gekommen ist. Oft steckt dahinter eine Unzufriedenheit mit der Beziehung oder mit sich selbst, die man aber nicht anspricht. Hier geht es wieder um die Kommunikation.
Sind Partner nach einem virtuellen oder realen Seitensprung heute eher bereit als früher, sich beraten zu lassen, um die Ehe zu retten?
Nach meiner Erfahrung ja. Es gelingt aber nicht allen. Oft ist nicht der Vorfall entscheidend, sondern dass jahrelang vieles verdrängt worden ist. Der Seitensprung ist die Folge davon, dass die Beziehungsarbeit vernachlässigt wurde. Wenn die Beziehung grundsätzlich gewünscht wird und beide bereit sind, an ihren Defiziten zu arbeiten, kann ein (emotionaler) Seitensprung überwunden werden. Die Leute sind realistisch genug, um zu wissen, dass man auch mit den modernen Kommunikationsmitteln nicht ohne Weiteres einen Partner findet, der zu einem passt. Ich sage das den Leuten aber auch deutlich. Ich erlebe viele Geschiedene in der Beratung, die zahlreiche demütigende Erfahrung bei der Partnersuche im Internet gemacht haben.
Haben junge Christen mehr Probleme mit dem Sex als Leute ohne christlichen Hintergrund?
Christen stehen vor einer viel höheren Hürde, Zugang zu ihrem eigenen Körper zu finden. Das hat meines Erachtens vor allem mit dem problemorientierten Zugang der christliche Lebenswelt zur Sexualität zu tun. Sie kennt vor allem eine Verbotskultur, aber keinen ermutigenden Zugang zu entwicklungsfördernden Informationen und Lernschritten in der Sexualität. Nichtchristen tun sich da viel leichter. Beziehungsprobleme haben beide. Auch die Probleme, die daraus folgen. Aber der Zugang zum Körper ist für Christen ein nicht begangenes Feld, und daraus folgen grosse Probleme. Dahinter steht vor allem das Tabu Selbstbefriedigung – und auch das mangelnde Wissen über Sexualität. Viele junge Christen würden vermutlich weniger der Pornosucht verfallen, wenn sie sich erlauben würden, sich selbst zu befriedigen. Die Gemeinden vermitteln eher die Tabus. Für die Ehe hat das verheerende Folgen.
Wie gehen Sie mit der in christliche Gemeinden gelehrten Norm um, dass Sexualität allein in die Ehe gehöre?
Fakt ist, dass sich gegen 75 Prozent der Paare nicht daran halten. Ich sage dennoch nicht, dass dies kein Problem sei. Es ist bekannt, dass Christen wie Nichtchristen erstmals zwischen 16 und 18 Jahren Sex haben. Ich erlebe viele Paare, die bekennen, schon Sex zu haben. Somit kommt die Botschaft oft zu spät, dass sie damit bis zur Heirat warten sollten. Dabei gebe es schon gute Gründe, mit dem Sex noch zu warten. Verliebten Paaren fehlt es oft am gründlichen Kennenlernen und am Aufbau einer Kommunikation auf hohem Niveau. Das bringt später leicht Probleme. Junge Menschen sollten vor allem zur Entwicklung eines gesunden Selbstgefühls und zu Selbstverantwortung angeleitet werden. Sie sollten von uns offen und ehrlich Rat und Informationen erhalten, wie sie eigenverantwortlich mit Sexualität umgehen und ihre Persönlichkeit entwickeln. Sie werden unseren Rat eher annehmen, wenn wir ihnen zutrauen und zugestehen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Sollen sie besser früh heiraten?
Nur wegen dem Sex? Auf keinen Fall. Wichtiger wäre die Auseinandersetzung mit dem Thema, ob Ehe heute neu definiert werden könnte, angepasst an die heutige Lebenswelt der Menschen. Es gibt zahlreiche Gründe, die ein Paar nicht heiraten lässt, besonders die langen Ausbildungszeiten. Aber auch finanzielle und versicherungstechnische Gründe, weil die Heirat sie in existenzielle Nöte bringen würde, auch, indem sie Renten- oder Versicherungsleistungen verlieren. Aber leider sind das alles in christlichen Gemeinden Tabuthemen, die entsprechenden Denkverboten unterliegen.
Zur Person
Veronika Schmidt, 56, verheiratet, vier erwachsene Kinder, studierte Sozialpädagogik und hat eine Beratungspraxis als Klinische Sexologin und Systemische Paar- und Familienberaterin. Sie ist Verfasserin der Bücher «Liebeslust – unverschämt und echt geniessen» (Buchrezension Livenet) und «Alltagslust: Ganz entspannt zum guten Sex». Für ihren Blog erhielt sie 2017 den FAMILYLIFE Award für ein innovatives Projekt im Bereich Ehe und Familie. Ihr Motto: Schöner und lustvoller Sex muss kein Wunschtraum bleiben. Jedes Paar kann lernen, Erotik für sich zu entdecken und zu leben.
Zur Webseite:
www.veronikaschmidt.ch
Zum Blog:
www.liebesbegehren.ch
Die Publikation dieses Interviews erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Schweizerischen Stiftung für die Familie SSF. Weitere Informationen unter www.stiftung-familie.ch.
Zum Thema:
Zehn Lebensprinzipien: Leidenschaften im richtigen Rahmen geniessen
Kleinigkeiten mit grosser Wirkung: Wie man die Ehe neu beleben kann
Tappen Sie nicht in diese Fallen: Fünf Grundsätze für eine erfüllte Ehe
Autor: Fritz Imhof
Quelle: SSF – Schweizerische Stiftung für die Familie / Livenet
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