Präses im Interview
«Erschrecken Sie die Frommen, Frau Heinrich?»
Anna-Nicole Heinrich leitet seit wenigen Wochen als jüngste Synodenpräses das Parlament der EKD. Mit PRO hat sie darüber gesprochen, wie sie als Kind ihren Weg zur Kirche fand und was sie nun darin ändern will.
Frau Heinrich, Sie sind Funktionärin der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD), sind von Konservativen für die Präseswahl
nominiert worden, studieren Philosophie und setzen sich für eine queere
und vielfältige Kirche ein. Sie bezeichnen sich als liberal und Ihr
Glaubensleben als charismatisch. Haben Sie in den Wochen seit Ihrer Wahl
zur Präses Irritation ob Ihrer Person erlebt?
Anna-Nicole
Heinrich: Irritation habe ich nicht erlebt. Stattdessen ist mir eine
grosse Gesprächsbereitschaft entgegengeschlagen, ein offenes
Aufeinanderzugehen von allen Seiten. An mir sieht man, dass es in der
evangelischen Kirche sehr wohl zusammengeht, sich für queere
Lebensformen einzusetzen und zugleich etwa mit Vertretern und
Vertreterinnen des Gnadauer Verbandes zusammenzusitzen. Ich bin mit fast
allen im Gespräch. Das bedeutet natürlich auch, dass ich mal kritisch
diskutiere. Ich bin eben so, wie ich bin, das merken die Leute und
deshalb nimmt es mir auch niemand krumm, wenn ich etwa mit Gender-Gap
spreche. Ich möchte mit möglichst allen reden können und niemanden von
vorneherein ausschliessen.
Wer alle einschliessen will,
schliesst automatisch auch aus, oder? Etwa jene, die den Gender-Gap oder
queere Lebensformen in der Kirche ablehnen.
Das glaube
ich nicht. Das ist ja genau die Aufgabe, sich gegenseitig verstehen zu
lernen und die Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen. Beim
Gender-Gap etwa mache ich meine Motivation klar: Ich möchte alle
ansprechen. Und in der Regel kann mein Gegenüber das dann auch
aushalten, egal, wie seine oder ihre eigene Haltung dazu ist.
Sie
stammen aus einer nichtchristlichen Familie. Können Sie sich daran
erinnern, wie Sie die Kirche wahrgenommen haben, als Sie noch nicht
dazugehörten? Also im Kindergarten- und Grundschulalter?
Kirche
kam für mich in Verbindung mit Aktionen vor: Laternenumzug an Sankt
Martin etwa. Oder wenn wir mal einen Kindergartenausflug in die
katholische Kirche gemacht haben. Das war natürlich toll, Ausflüge im
Kindergarten waren immer toll. Aber das hatte mit der Kirche als
Institution weniger zu tun.
Warum hat sich Ihr Verhältnis zur Kirche geändert?
Ich
musste mich in der Grundschule für den katholischen oder evangelischen
Religionsunterricht entscheiden, Ethik gab es nicht. Ich ging zum
evangelischen – übrigens gab es hier in der bayerischen Diaspora nur
eine stufenübergreifende Evangelisch-Klasse – und dort fand ich sehr
gute Freunde und Freundinnen. Als es dann in Richtung weiterführende
Schule ging, musste ich neu überlegen, ob ich nicht doch ins Fach Ethik
wechseln wollte. Und wenn nicht, dann war auch klar: Es wäre gut, sich
an die Glaubensgemeinschaft zu binden. Passend dazu haben wir das Thema
Taufe behandelt, als ich so um die zehn Jahre alt war. Und ich entschied
mich dazu, bin gemeinsam mit meiner Mutter zum Pfarrer gegangen und wir
haben das fest gemacht. Weil ich eben Teil dieser evangelischen Gruppe
war, weil es da bereits kleine Freizeiten gegeben hatte und ich
irgendwie in die Jugendarbeit integriert war. Rückblickend betrachtet
war die Kinder- und Jugendarbeit der Kirche sehr ansprechend und
ausschlaggebend für meine Entscheidung.
Ihre Mutter ist
direkt mit ins Boot gesprungen und hat sich gemeinsam mit Ihnen taufen
lassen. Haben Sie sie mit dem Glauben angesteckt?
Ich
habe erst kürzlich darüber nachgedacht, warum meine Mutter das damals
getan hat: Als Alleinerziehende, nicht-religiös und dann auch noch
Kirchensteuer zahlen? Was war da der Unique Selling Point der Kirche?
Ich glaube, die Antwort ist: Meine Mutter hat gesehen, dass ich dort
eine sehr schöne Zeit hatte. Sie hatte das Gefühl, dass ich dort gut
aufgehoben war. Und dass die Werte, die ich dort vermittelt bekommen
habe, wichtig waren.
Ihre Mutter hat den Kontakt zur Kirche nicht gehalten. Was lernen Sie daraus?
Sie
geht schon mal mit in den Gottesdienst. Ich glaube aber, es gab nie den
Moment in ihrem Leben, wo sie wirklich berührt war von dem, was Kirche
einem geben kann. Ich lerne daraus zwei Dinge: Erstens gibt es Menschen
wie meine Mutter, die sich der Institution Kirche zugehörig fühlen, ohne
selbst innig fromm zu sein, einfach weil sie hinter dem stehen, was die
Kirche für andere tut. Meine Mutter würde wohl nie aus der Kirche
austreten. Wir müssen uns also als Christen und Christinnen fragen, wie
wir Kirchenmitgliedschaft gestalten können, auch für Menschen, die die
christliche Botschaft noch nicht im Herzen berührt hat, die aber die
Gemeinschaft und die Werke der Kirche schätzen und unterstützen.
Zweitens müssen wir uns fragen, wie wir es schaffen, Menschen mitzunehmen, die von Haus aus keine Glaubenssozialisation erfahren haben. Wie schaffen wir es, Gottesdienste zu gestalten, in denen sich Kirchenferne nicht verloren fühlen, weil sie nicht wissen, wann sie was machen müssen? Gottesdienste müssen offen dafür sein, dass Menschen auch punktuell und kurz auf der Welle mitsurfen können, auch wenn sie sich noch nicht mit der christlichen Botschaft auseinandergesetzt haben. Wie können wir Räume schaffen, in denen sich diese Menschen zugehörig fühlen?
Demnach geschieht das alles jetzt noch nicht?
Das
würde ich so nicht sagen. Ich glaube, wir sind in einer Umbruchphase.
Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Menschen, die in unsere
Kirchen und Gottesdienste kommen, einen grossen Erfahrungsschatz des
christlichen Glaubens mitbringen. Darauf müssen wir uns einstellen.
Viele in kirchlicher Verantwortung wollen diesen Gestaltungsspielraum
zulassen und ermöglichen; so können Menschen gleichsam durch punktuelle
Neugier Glaube und Kirche entdecken. Ein Beispiel: Ich habe einen
Freund, der war noch nie in der Kirche. Nun gibt es einen Trauerfall in
der Familie und plötzlich setzt er sich in den Regensburger Dom, um
nachzudenken. Weil ihm dieser Ort den Raum dazu bietet. Dieser Freund
würde nie sagen, dass er Christ ist. Oder dass Kirche ihm am Herzen
liegt. Aber der Raum stärkt und tröstet auf eine Weise, die auch er
spürt. Das bringt mit sich, dass wir mehr Erfahrungen zulassen und
weniger einfordern: manchmal ist Stille, Schweigen, Nachdenken mehr als
alles Erklären.
Sie wünschen sich mehr Sprachfähigkeit in der Kirche…
Ja.
Auch bei mir selbst. Wenn mich jemand fragt: «Wie ist Ihre Beziehung zu
Gott?» Dann muss auch ich erstmal überlegen. Und das Ganze in einem
Gespräch entwickeln. Aber ich wünsche mir vor allem, dass man den
Hauptamtlichen unserer Kirche noch häufiger anmerkt, wo sie der Glaube
persönlich berührt. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin muss jeden Sonntag
einen Gottesdienst machen, da ist es klar, dass er nicht von allem immer
berührt sein kann. Aber es darf an keiner Stelle so wirken, als machte
man einfach nur seinen Job: zwölf Minuten Predigt und fertig. Wenn aber
jemand einsteigt mit Worten wie: «Leute, dieser Text hat mich
überfordert. Ich habe mehr Fragen als Antworten, aber ich teile das
jetzt mit euch…», dann merke ich, dass die Bibelstelle etwas in ihm
bewegt hat. Und kann mich auch bewegen lassen. Das bedeutet natürlich,
dass Geistliche sich verletzlich machen. Aber gerade diese Ehrlichkeit
ist anschlussfähig, auch für Menschen, die eigentlich keinen Zugang zum
Glauben haben.
Was muss ein Gottesdienst haben, damit Sie sich wohlfühlen?
Es
ist wie mit Musikhören: Es gibt Phasen, da habe ich richtig Bock auf
einen Technoclub, will fünf Stunden lang Sprudelwasser trinken und
tanzen. Dann gibt es Phasen, da möchte ich gerne in einem Irish Pub
sitzen, ein Guinness trinken und einer Liveband lauschen. Und wenn ich
zu Hause lerne, höre ich gerne klassische Musik. So ist es auch mit
Gottesdienstformen. Ich mag Liturgie, weil mich etwas hält, auch wenn
ich mich gerade nicht so sehr da hineingeben kann. Dialogische Formen
sind toll, weil sie mich herausfordern. Manchmal mag ich 300 Leute und
einen Posaunenchor. Und manchmal eine kleine Morgenandacht zu sechst
vorm Co-Working. Ich will mich nicht festlegen, weil es stimmungs- und
situationsabhängig ist, aber ich finde es toll, dass es all diese
Formate bei uns gibt.
Wie ist Ihr Verhältnis zu den Freikirchen?
Durch
die aej, also die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend, habe
ich Kontakt zu freikirchlichen Organisationen, weil diese da massgeblich
mitarbeiten: Baptisten, Methodisten, Brüderunität und so weiter. Ich
lerne dort viele coole Leute aus Freikirchen kennen. Wir haben uns auch
an manchen Punkten gerieben, vor allem aber haben wir gemeinsam viel
über Veranstaltungsformate diskutiert und ich war öfter in Freikirchen
zu Besuch. Ich bin sehr landeskirchlich beheimatet, aber habe eine grosse
Offenheit in diese Richtung. Ich habe tolle Momente in Freikirchen
erlebt.
Es heisst, Ihre Präseswahl sei von der Lebendigen Gemeinde unterstützt worden. Wie ist Ihr Verhältnis zum frommen Pietismus?
Ich
glaube, das ist ein Missverständnis. Ich gehöre in der Synode dem
Arbeitskreis Lebendige Kirche an, in dem auch einige Pietisten aus
Württemberg sind. Das sind vielleicht zehn Prozent. Also nicht die
gesamte Gruppe ist pietistisch. Ich habe in der Lebendigen Kirche immer
eine grandiose Diskussionskultur erlebt – obwohl ich weiss, dass die
Mehrheit etwa in Genderfragen anders tickt als ich. Aber ich hab nichts
gegen fromme Pietisten und Pietistinnen, ich schätze sie in dieser
Gruppe sehr.
Erschreckt man sich in dieser Gruppe, wenn Sie nun über Feminismus und sexuelle Vielfalt in der Kirche sprechen?
Nein,
die Mitglieder kannten mich ja vorher. Es war nie ein Problem. Wir
konnten immer dennoch geeint Kirche gestalten. Menschen mit anderer
Meinung als ich sagen oft: Lernt die Frau doch erstmal kennen und dann
reden wir weiter. Die Gesprächsbereitschaft ist gross, auch von
freikirchlicher Seite.
Und andersherum: Stösst manchen in der EKD Ihre Nähe zu den Freikirchen auf?
Nein, auch da erlebe ich eine hohe Gesprächsbereitschaft.
Zum Originalartikel auf PRO
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Autor: Anna Lutz
Quelle: PRO Medienmagazin
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