Präses im Interview

«Erschrecken Sie die Frommen, Frau Heinrich?»

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Anna-Nicole Heinrich (Bild: Facebook @anna.heinrich.5439)
Anna-Nicole Heinrich leitet seit wenigen Wochen als jüngste Synodenpräses das Parlament der EKD. Mit PRO hat sie darüber gesprochen, wie sie als Kind ihren Weg zur Kirche fand und was sie nun darin ändern will.

Frau Heinrich, Sie sind Funktionärin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sind von Konservativen für die Präseswahl nominiert worden, studieren Philosophie und setzen sich für eine queere und vielfältige Kirche ein. Sie bezeichnen sich als liberal und Ihr Glaubensleben als charismatisch. Haben Sie in den Wochen seit Ihrer Wahl zur Präses Irritation ob Ihrer Person erlebt?
Anna-Nicole Heinrich:
Irritation habe ich nicht erlebt. Stattdessen ist mir eine grosse Gesprächsbereitschaft entgegengeschlagen, ein offenes Aufeinanderzugehen von allen Seiten. An mir sieht man, dass es in der evangelischen Kirche sehr wohl zusammengeht, sich für queere Lebensformen einzusetzen und zugleich etwa mit Vertretern und Vertreterinnen des Gnadauer Verbandes zusammenzusitzen. Ich bin mit fast allen im Gespräch. Das bedeutet natürlich auch, dass ich mal kritisch diskutiere. Ich bin eben so, wie ich bin, das merken die Leute und deshalb nimmt es mir auch niemand krumm, wenn ich etwa mit Gender-Gap spreche. Ich möchte mit möglichst allen reden können und niemanden von vorneherein ausschliessen.

Wer alle einschliessen will, schliesst automatisch auch aus, oder? Etwa jene, die den Gender-Gap oder queere Lebensformen in der Kirche ablehnen.
Das glaube ich nicht. Das ist ja genau die Aufgabe, sich gegenseitig verstehen zu lernen und die Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen. Beim Gender-Gap etwa mache ich meine Motivation klar: Ich möchte alle ansprechen. Und in der Regel kann mein Gegenüber das dann auch aushalten, egal, wie seine oder ihre eigene Haltung dazu ist. 

Sie stammen aus einer nichtchristlichen Familie. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie die Kirche wahrgenommen haben, als Sie noch nicht dazugehörten? Also im Kindergarten- und Grundschulalter?
Kirche kam für mich in Verbindung mit Aktionen vor: Laternenumzug an Sankt Martin etwa. Oder wenn wir mal einen Kindergartenausflug in die katholische Kirche gemacht haben. Das war natürlich toll, Ausflüge im Kindergarten waren immer toll. Aber das hatte mit der Kirche als Institution weniger zu tun.

Warum hat sich Ihr Verhältnis zur Kirche geändert?
Ich musste mich in der Grundschule für den katholischen oder evangelischen Religionsunterricht entscheiden, Ethik gab es nicht. Ich ging zum evangelischen – übrigens gab es hier in der bayerischen Diaspora nur eine stufenübergreifende Evangelisch-Klasse – und dort fand ich sehr gute Freunde und Freundinnen. Als es dann in Richtung weiterführende Schule ging, musste ich neu überlegen, ob ich nicht doch ins Fach Ethik wechseln wollte. Und wenn nicht, dann war auch klar: Es wäre gut, sich an die Glaubensgemeinschaft zu binden. Passend dazu haben wir das Thema Taufe behandelt, als ich so um die zehn Jahre alt war. Und ich entschied mich dazu, bin gemeinsam mit meiner Mutter zum Pfarrer gegangen und wir haben das fest gemacht. Weil ich eben Teil dieser evangelischen Gruppe war, weil es da bereits kleine Freizeiten gegeben hatte und ich irgendwie in die Jugendarbeit integriert war. Rückblickend betrachtet war die Kinder- und Jugendarbeit der Kirche sehr ansprechend und ausschlaggebend für meine Entscheidung.

Ihre Mutter ist direkt mit ins Boot gesprungen und hat sich gemeinsam mit Ihnen taufen lassen. Haben Sie sie mit dem Glauben angesteckt?
Ich habe erst kürzlich darüber nachgedacht, warum meine Mutter das damals getan hat: Als Alleinerziehende, nicht-religiös und dann auch noch Kirchensteuer zahlen? Was war da der Unique Selling Point der Kirche? Ich glaube, die Antwort ist: Meine Mutter hat gesehen, dass ich dort eine sehr schöne Zeit hatte. Sie hatte das Gefühl, dass ich dort gut aufgehoben war. Und dass die Werte, die ich dort vermittelt bekommen habe, wichtig waren. 

Ihre Mutter hat den Kontakt zur Kirche nicht gehalten. Was lernen Sie daraus?
Sie geht schon mal mit in den Gottesdienst. Ich glaube aber, es gab nie den Moment in ihrem Leben, wo sie wirklich berührt war von dem, was Kirche einem geben kann. Ich lerne daraus zwei Dinge: Erstens gibt es Menschen wie meine Mutter, die sich der Institution Kirche zugehörig fühlen, ohne selbst innig fromm zu sein, einfach weil sie hinter dem stehen, was die Kirche für andere tut. Meine Mutter würde wohl nie aus der Kirche austreten. Wir müssen uns also als Christen und Christinnen fragen, wie wir Kirchenmitgliedschaft gestalten können, auch für Menschen, die die christliche Botschaft noch nicht im Herzen berührt hat, die aber die Gemeinschaft und die Werke der Kirche schätzen und unterstützen.

Zweitens müssen wir uns fragen, wie wir es schaffen, Menschen mitzunehmen, die von Haus aus keine Glaubenssozialisation erfahren haben. Wie schaffen wir es, Gottesdienste zu gestalten, in denen sich Kirchenferne nicht verloren fühlen, weil sie nicht wissen, wann sie was machen müssen? Gottesdienste müssen offen dafür sein, dass Menschen auch punktuell und kurz auf der Welle mitsurfen können, auch wenn sie sich noch nicht mit der christlichen Botschaft auseinandergesetzt haben. Wie können wir Räume schaffen, in denen sich diese Menschen zugehörig fühlen?

Demnach geschieht das alles jetzt noch nicht?
Das würde ich so nicht sagen. Ich glaube, wir sind in einer Umbruchphase. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Menschen, die in unsere Kirchen und Gottesdienste kommen, einen grossen Erfahrungsschatz des christlichen Glaubens mitbringen. Darauf müssen wir uns einstellen. Viele in kirchlicher Verantwortung wollen diesen Gestaltungsspielraum zulassen und ermöglichen; so können Menschen gleichsam durch punktuelle Neugier Glaube und Kirche entdecken. Ein Beispiel: Ich habe einen Freund, der war noch nie in der Kirche. Nun gibt es einen Trauerfall in der Familie und plötzlich setzt er sich in den Regensburger Dom, um nachzudenken. Weil ihm dieser Ort den Raum dazu bietet. Dieser Freund würde nie sagen, dass er Christ ist. Oder dass Kirche ihm am Herzen liegt. Aber der Raum stärkt und tröstet auf eine Weise, die auch er spürt. Das bringt mit sich, dass wir mehr Erfahrungen zulassen und weniger einfordern: manchmal ist Stille, Schweigen, Nachdenken mehr als alles Erklären.

Sie wünschen sich mehr Sprachfähigkeit in der Kirche…
Ja. Auch bei mir selbst. Wenn mich jemand fragt: «Wie ist Ihre Beziehung zu Gott?» Dann muss auch ich erstmal überlegen. Und das Ganze in einem Gespräch entwickeln. Aber ich wünsche mir vor allem, dass man den Hauptamtlichen unserer Kirche noch häufiger anmerkt, wo sie der Glaube persönlich berührt. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin muss jeden Sonntag einen Gottesdienst machen, da ist es klar, dass er nicht von allem immer berührt sein kann. Aber es darf an keiner Stelle so wirken, als machte man einfach nur seinen Job: zwölf Minuten Predigt und fertig. Wenn aber jemand einsteigt mit Worten wie: «Leute, dieser Text hat mich überfordert. Ich habe mehr Fragen als Antworten, aber ich teile das jetzt mit euch…», dann merke ich, dass die Bibelstelle etwas in ihm bewegt hat. Und kann mich auch bewegen lassen. Das bedeutet natürlich, dass Geistliche sich verletzlich machen. Aber gerade diese Ehrlichkeit ist anschlussfähig, auch für Menschen, die eigentlich keinen Zugang zum Glauben haben.

Was muss ein Gottesdienst haben, damit Sie sich wohlfühlen?
Es ist wie mit Musikhören: Es gibt Phasen, da habe ich richtig Bock auf einen Technoclub, will fünf Stunden lang Sprudelwasser trinken und tanzen. Dann gibt es Phasen, da möchte ich gerne in einem Irish Pub sitzen, ein Guinness trinken und einer Liveband lauschen. Und wenn ich zu Hause lerne, höre ich gerne klassische Musik. So ist es auch mit Gottesdienstformen. Ich mag Liturgie, weil mich etwas hält, auch wenn ich mich gerade nicht so sehr da hineingeben kann. Dialogische Formen sind toll, weil sie mich herausfordern. Manchmal mag ich 300 Leute und einen Posaunenchor. Und manchmal eine kleine Morgenandacht zu sechst vorm Co-Working. Ich will mich nicht festlegen, weil es stimmungs- und situationsabhängig ist, aber ich finde es toll, dass es all diese Formate bei uns gibt. 

Wie ist Ihr Verhältnis zu den Freikirchen?
Durch die aej, also die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend, habe ich Kontakt zu freikirchlichen Organisationen, weil diese da massgeblich mitarbeiten: Baptisten, Methodisten, Brüderunität und so weiter. Ich lerne dort viele coole Leute aus Freikirchen kennen. Wir haben uns auch an manchen Punkten gerieben, vor allem aber haben wir gemeinsam viel über Veranstaltungsformate diskutiert und ich war öfter in Freikirchen zu Besuch. Ich bin sehr landeskirchlich beheimatet, aber habe eine grosse Offenheit in diese Richtung. Ich habe tolle Momente in Freikirchen erlebt.

Es heisst, Ihre Präseswahl sei von der Lebendigen Gemeinde unterstützt worden. Wie ist Ihr Verhältnis zum frommen Pietismus?
Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Ich gehöre in der Synode dem Arbeitskreis Lebendige Kirche an, in dem auch einige Pietisten aus Württemberg sind. Das sind vielleicht zehn Prozent. Also nicht die gesamte Gruppe ist pietistisch. Ich habe in der Lebendigen Kirche immer eine grandiose Diskussionskultur erlebt – obwohl ich weiss, dass die Mehrheit etwa in Genderfragen anders tickt als ich. Aber ich hab nichts gegen fromme Pietisten und Pietistinnen, ich schätze sie in dieser Gruppe sehr.

Erschreckt man sich in dieser Gruppe, wenn Sie nun über Feminismus und sexuelle Vielfalt in der Kirche sprechen?
Nein, die Mitglieder kannten mich ja vorher. Es war nie ein Problem. Wir konnten immer dennoch geeint Kirche gestalten. Menschen mit anderer Meinung als ich sagen oft: Lernt die Frau doch erstmal kennen und dann reden wir weiter. Die Gesprächsbereitschaft ist gross, auch von freikirchlicher Seite.

Und andersherum: Stösst manchen in der EKD Ihre Nähe zu den Freikirchen auf?
Nein, auch da erlebe ich eine hohe Gesprächsbereitschaft.

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Datum: 26.06.2021
Autor: Anna Lutz
Quelle: PRO Medienmagazin

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