Ukraine
«Menschen verfallen in die Gleichgültigkeit»
Die Ukraine versinkt in vielen Bereichen in der Gleichgültigkeit. Dieses Fazit zieht der Missionsleiter von «Brücke der Hoffnung» Burkhard Rudat. Im PRO-Interview zu seinem neuen Buch verrät er, wo es trotzdem Hoffnungsschimmer gibt.
PRO: Sie sind seit mehreren Jahrzehnten in der Missionsarbeit im Ostblock tätig: Welche grossen Entwicklungslinien können Sie beobachten?
Burkhard Rudat: Im Kommunismus der Sowjetunion regierte eine
Elitegruppe und das Volk musste folgen. Wer dies nicht tat, wurde
bestraft. In dieser Zeit haben die meisten Menschen ihre Eigeninitiative
verloren. Für Entwicklungen war die Regierung zuständig. Und da in
diesem Bereich wenig zu sehen war, waren die Menschen enttäuscht und
später gleichgültig. Sie hatten das Gefühl, nichts ändern zu können.
Viele Menschen, besonders Fachkräfte, sind ins Ausland abgewandert und
fehlen im Land. Es gibt hier ein Gefälle zwischen der Stadt- und der
Landbevölkerung. Diese Einschätzung trifft auf die meisten Menschen der
Landbevölkerung zu.
Wo sehen Sie als Missionswerk keine Entwicklung und Stillstand?
Die fehlende Eigeninitiative wirkt sich stark auf die Wirtschaft aus.
Es gibt grosse Betriebe, kleine Baubrigaden und einzelne Handwerker,
aber keinen wirklichen Mittelstand. Wer sich Handwerker bestellt, um
Haus oder Wohnung zu renovieren, wird gefragt, ob er «eine europäische
oder eine kosmetische Renovierung» möchte. Dieser zweite Ansatz wird bei
den meisten Menschen in vielen Lebensbereichen sichtbar. Sie wollen
keine Veränderung, sondern versuchen ihrem grauen, unmotivierten Alltag
an einigen Stellen einen neuen Anstrich zu geben.
Können Sie Beispiele nennen?
Das Schulsystem befindet sich auf einem extrem niedrigen Niveau. Um
den Schulen einen kosmetischen Anstrich zu geben, um sie besser dastehen
zu lassen, heisst die einfachste, weiterbildende Schule «Technikum», die
mit etwas höherem Lehrinhalt «College» oder gar «Lyzeum». Das ist nicht
zu vergleichen mit den identischen Begriffen in unserer Sprache.
Sie beschreiben in Ihrem Buch konkrete familiäre Situationen:
In welchen Bereichen fühlt man sich am ehesten im Kampf gegen
Windmühlen?
Es gibt in den Gebieten, in denen wir arbeiten, kaum Veränderung. Das
Motto ist: Es war schon immer so und es wird immer so bleiben. Viele
Eltern unserer Kinder haben selbst nur unregelmässig eine Schule besucht
und können weder lesen noch schreiben. Auf dieser Basis ist es fast
unmöglich eine Arbeitsstelle zu finden. Viele von ihnen wohnen in «Vergessenen Dörfern» in heruntergekommenen Hütten. Sie ziehen bettelnd
über die Dörfer oder suchen nach Gelegenheitsjobs. Sie helfen alten
Menschen im Garten und erhalten oft als Lohn ein wenig Obst und Gemüse.
Andere setzen ein Kind nach dem anderen in die Welt, um vom Kindergeld
zu leben. Um die Lebensumstände zu ertragen, versuchen sie ihre Sorgen
im selbstgebrannten Wodka zu ertränken.
Was bedeutet das für die Kinder?
Viele von ihnen kommen in unsere Kinderhäuser. Wir versuchen ihnen zu
helfen, mit Dingen, die sie in ihrer Familie nicht kennengelernt haben.
Das fängt bei der Hygiene und regelmässigen Mahlzeiten an. Es geht
weiter mit Lebensfragen, Lebenszielen und einem aufbauenden Lebensstil.
Am Ende steht für einige unserer Kinder unser Glaubenskurs «In Seiner
Nähe!». Wir haben mit jedem Kind Ziele vor Augen. Jeden Abend gehen
unsere Kinder in ihre Familien zurück, wo sie Alkohol, Gewalt und
sexuelle Übergriffe ertragen. Es bleibt die Frage, wie wir mit jedem
Kind unsere Ziele erreichen oder ob die Spuren aus ihren Familien
bereits so tief in ihnen sind, dass sie in denselben Lebenskreislauf wie
ihre Eltern einschlagen werden.
Welche Wunder haben Sie erlebt?
Meine Berufung in die Ukraine. Anfang der 90er Jahr habe ich den
Leiter aller Gefängnisse in Russland kennengelernt. Er hat uns gebeten
in russischen Gefängnissen zu helfen, um Hoffnung zu verbreiten. In den
kommenden Jahren bin ich mit Gruppen von 40 Teilnehmern aus dem Westen
durch Gefängnisse gereist, habe eine Organisation mit aufgebaut, die
kleine Gefängnisgemeinden betreut hat. Diese Zeit hat viel Kraft
gekostet. Ich kann mich noch gut an einen Nachmittag erinnern, an dem
ich ausgebrannt mit einem Freund in einem Hotelzimmer in Moskau sass, als
wir uns ziemlich erschöpft, Gedanken um die nächsten Schritte gemacht
haben.
Wie haben Sie sich entschieden?
Nach einem langen Gespräch haben wir beschlossen unsere Gedanken und
Gefühle im Gebet auszusprechen. Plötzlich klopfte es an der Tür. Ein
völlig übermüdeter Pastor aus Kiew stand vor der Tür, den ich bisher
einmal kurz getroffen hatte. Er war die ganze Nacht mit dem Zug nach
Moskau gefahren. Er sagte mir: «Burkhard, meine Gemeinde hat mich zu dir
geschickt. Du musst zu uns in die Ukraine kommen und uns helfen. Wir
haben bereits eine möblierte Wohnung für dich gemietet.» Am nächsten
Abend sass ich im Nachtzug nach Kiew.
Ab dann hat Sie die Ukraine nicht mehr losgelassen…
So ist es! Um noch eins von vielen anderen Wundern zu erleben. Ich
war drei Wochen in der Ukraine. Wir planten an einem Montag mit unseren
Mitarbeitern die kommenden Monate. Dabei hatten wir unser finanzielles
Budget schon weit überschritten. Da klingelte das Telefon. Ein
Mitarbeiter informierte mich, dass es ein Gesetz gibt, dass LKW, die
älter als zwölf Jahre sind, das Land nicht mehr verlassen dürfen. Unser
Auflieger war 13 Jahre alt. Ich war ratlos, von welchem Geld ich neue
LKW kaufen sollte. Wir brauchten 20'080 Euro für ein Gerät, das infrage
kam. Unser Konto war fast leer. Wie durch ein Wunder hatten wir wenige
Tage später fast genau das Geld auf dem Konto, das wir für die
Anschaffung brauchten. Als ich die Geschichte am kommenden Sonntag im
Gottesdienst erzählte, hat mir eine Frau gesagt, dass ja noch 80 Euro
fehlten, und mir das Geld auch noch in die Hand gedrückt.
Die Welt lebt jetzt seit 18 Monaten in der Corona-Pandemie.
Was bedeutet das für ein Land wie die Ukraine – im Gegensatz zu
Deutschland?
Man spürt, dass die Corona-Krise die Wirtschaft in der Ukraine schwer
belastet hat. In diesen Wochen müssten Schulen renoviert, Heizungen
repariert werden. Die Regierung erhält aus vielen Bereichen Anfragen,
die finanziell unterstützt werden müssten: das Gesundheitswesen, der
Strassenbau, die Renten, viele soziale Bereiche. Die Finanzen sind aber
nur sehr begrenzt vorhanden. Seit einigen Monaten erhält nur noch
derjenige Kindergeld, der eine feste Arbeitsstelle hat. Doch während der
Corona-Krise kann man in den armen Gebieten kaum Arbeit finden. Wie
überlebt man dann, wenn einem auch noch das Kindergeld gestrichen wird?
Teilen Sie die Einschätzung, dass sich Corona als Brennglas für die Gesellschaft erwiesen hat in der Ukraine?
In der Anfangszeit der Corona-Krise hatte man Bedenken, dass man erst
im nächsten Jahr einen Impfstoff erhält, der von der
Weltgesundheitsorganisation WHO akzeptiert ist. Nun ist genügend
Impfstoff vorhanden und man kann sich jederzeit impfen lassen. Doch die
Bereitschaft ist niedrig. Wenige Menschen lesen Zeitungen. Sie vertrauen
eher seltsamen Gerüchten zur sinkenden Impfbereitschaft als der
Politik.
Welche Arbeit von «Brücke der Hoffnung» ist aktuell möglich?
Das Zentrum von «Brücke der Hoffnung» liegt in Swetlowodsk. Die Stadt
in der Südukraine hat 44'000 Einwohner und gilt als eines der ärmsten
Gebiete der Ukraine. Wir haben dort über 30 hauptamtliche Mitarbeiter
angestellt. Die meisten von ihnen sind Erzieherinnen. Hinzu kommen drei «Zufluchtsorte» in Dörfern. Unsere Kinder kommen aus armen, oft
gestörten Familien. Unsere jüngsten Gäste besuchen das «Spatzennest».
Wenn sie eingeschult werden, nehmen wir sie in Kleingruppen, mit bis zu
acht Kindern, auf. In unserer Lehrwerkstatt werden Mädchen auf ihre
berufliche Zukunft vorbereitet. In unserem Programm «Fliegen lernen»,
helfen wir ihnen bei ihren Schritten in ihr berufliches Leben. In
unserem «Tageskinderheim» verbringen Kinder aus schwierigen Familien den
ganzen Tag und schlafen nur zu Hause. In unserer «Villa Regenbogen»
werden Mädchen in Notlagen aufgenommen. In Seminaren unterrichten wir
Eltern in Erziehungsfragen und unsere Erzieherinnen nehmen an
Weiterbildungen teil. In unseren humanitären Hilfsprogrammen
unterstützen wir bedürftige Familien durch die Aktionen, Direkthilfe,
Starthilfe und Winterhilfe.
Vielen Dank für das Gespräch.
Burkhard Rudat ist Missionsleiter bei «Brücke der Hoffnung». In seinem neuesten Buch berichtet er von seiner langjährigen Erfahrung in der Ukraine und der Begegnung mit den Menschen vor Ort.
Zum Originalartikel auf PRO
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Autor: Johannes Blöcher-Weil
Quelle: PRO Medienmagazin
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