Reinhold Scharnowski

Warum ich nicht um Erweckung bete

Beten um Erweckung ist in. Predigen darüber auch. Prophezeien noch mehr. Die Hoffnung tausender von Christen ist auf «sie» gerichtet, und je gottloser und säkularer die Gesellschaft wird, um so mehr erwarten wir von «ihr» den grossen Durchbruch, der uns bisher verwehrt blieb. Ob das der Sinn der Sache ist? Ein Kommentar von Livenet-Redaktor Reinhold Scharnowski (bitte bis zum Schluss lesen).

Ich möchte es gerade zu Anfang mit aller Deutlichkeit sagen: Ich schreibe diesen Artikel nicht, weil ich dem Status Quo oder der christlichen Bequemlichkeit das Wort reden, erst recht nicht das Wirken des Heiligen Geist beargwöhnen würde; natürlich am wenigsten, um eifrige Gläubige in ihrer Sehnsucht zu kritisieren. Wenn «sie» kommen sollte, wäre ich der erste, der – hoffentlich – mittendrin steckt. Wer mich kennt, weiss das. Aber ich frage mich immer wieder, ob wir uns mit dem stürmischen Beten um Erweckung einen Gefallen tun. Und auf die Gefahr hin, als Nestbeschmutzer zu gelten, gleichzeitig in der Hoffnung, biblischen Reich-Gottes-Realismus zu fördern, stelle ich hier mal etwas holzschnittartig dar, warum ich die Fixierung auf Erweckung für bedenklich halte:

1. Weil wir in Christus alles haben – heute und nicht erst morgen

Das ist mein Hauptgrund. Die ständige Bitte um Erweckung trübt uns leicht den Blick dafür, dass wir in Christus mit allem geistlichen Segen gesegnet sind, und zwar heute. Die Gemeinden des Neuen Testamentes hatten einen Haufen Probleme und Defizite, aber sie waren für Paulus «Heilige und Geliebte», auserwählt, vorherbestimmt, erlöst, beschenkt, erfüllt, versiegelt, mitauferweckt und mitversetzt (nach Epheser). Selbst die chaotische Gemeinde in Korinth hatte «keinen Mangel an irgendeiner Gnadengabe». Das sind gegenwärtige Tatsachen, die uns zu neuem Handeln und zur Veränderung befähigen. Die Fixierung auf Erweckung trübt gern den Blick dafür und verlegt alle Hoffnungen auf ein erwecktes Morgen bzw. «irgendwann» (denn keiner weiss ja, wann Erweckung kommt). Wir haben aber alle Fülle in Jesus. Natürlich müssen wir uns diese Fülle wachstümlich aneignen – und zwar immer wieder. Aber es ist nicht so, dass Gott einen Teil seiner Segnungen zurückgehalten hätte und quasi die volle Fülle erst gibt, wenn Erweckung da ist.

Neue Gesetzlichkeit?

Verbunden damit ist gern eine versteckte Neue Gesetzlichkeit, eine Wenn-dann-Vorstellung: «Wenn wir genug beten, wenn wir alle unsere Sünden bekennen und sein lassen, wenn wir völlig eins sind... dann kann Gott Erweckung schenken.» Peter Aschoff beschreibt seine eigene Erfahrung, die mit meiner fast identisch ist:

«Meine erste intensive Begegnung mit dem Thema Erweckung hatte ich vor 16 Jahren. Ich vertiefte mich in Bücher von Charles Finney und anderen, und in meiner Naivität dachte ich, wenn wir in unserer Jugendgruppe nur genug beten und unsere Sünden alle gründlich bekennen würden, könnten wir damit eine Erweckung auslösen. Also setzte ich alles daran, die Gruppe zu mobilisieren: Mal ein bisschen gesetzlichen Druck, mal ein bisschen Winken mit dem möglichen Erfolg, mal den Appell an die Sehnsucht nach Gott, die die meisten hatten. Es war und blieb eine staubtrockene Angelegenheit. Am Ende waren alle müde und desillusioniert. Gewissensbisse traten auf: Hatten wir nicht durchgehalten? Waren vielleicht Sünden unbekannt geblieben? Hatten einzelne die Sache blockiert, weil sie nicht engagiert genug mitgezogen hatten?» (Peter Aschoff, «Erweckungsfieber», Aufatmen 1/01)

Das Ganze läuft auf die Vorstellung hinaus: «Weil wir nicht so sind, wie wir sollten, kann Gott nicht segnen.» Das kann ein im Grunde heidnischer Gedanke sein, der die Gnade verdunkelt – eben dass wir in Christus alles haben, ohne Verdienst und Vorleistung.

2. Weil das Evangelium seine Kraft in den unchristlichsten Gesellschaften entfaltet

Erweckung bedeutet für viele die Bitte darum, dass sich Tausende von Menschen bekehren – übrigens eine falsche Vorstellung. Was wir Erweckung nennen, war immer zuerst «Erneuerung der Christen» auf eine tiefe, radikale Art – mit der Folge, dass ihr Zeugnis eine neue Kraft bekam, die geistliche Atmosphäre verändert wurde und dann Menschen in grösseren Mengen zum Glauben kamen. Heute – vor allem bei uns in der «einstmals christlichen Schweiz» meine ich, aus vielen Gebeten um Erweckung herauszuhören: «Herr, wehre doch der Ent-Christlichung und mach unser Land wieder christlicher». Das ist fromme Nostalgie. Schlimmer noch: Es schiebt die Schuld für die Säkularisierung der Gesellschaft den Christen in die Schuhe, nach dem Muster «Wir haben versagt, darum geht die Welt zum Teufel, und darum können wir auch nicht mehr viel tun». Diesen Teufels-Kreis könne nur «Erweckung» aufbrechen.

Was hier übersehen wird, ist die Tatsache, dass sich der natürliche Mensch immer von Gott weg entwickelt, dass das Reich Gottes aber angebrochen und dauernd am Anbrechen ist – und dass das Evangelium oft in den heidnischsten Gesellschaften seine grösste Sprengkraft entwickelt: nicht immer mit Tausenden von Bekehrten, aber mit kleinen, alternativen Zellen. Mit einer neuen Lebensart.

3. Weil Erweckung für viele eine magische Vorstellung ist...

Erweckung heisst für viele: Gott muss senkrecht von oben eingreifen. Man hat das Gefühl: «Wenn Gott nicht handelt, dann können wir machen, was wir wollen, es geschieht ja nichts» – man ist auf Erweckung fixiert wie die Schlange aufs Kaninchen. Aber vieles geschieht halt nicht «senkrecht von oben», sondern wachstümlich. Manche Menschen, die viel von Erweckung reden, neigen dazu, alle kleinen Schritte, nötigen Korrekturen, vor allem aber neue Strukturen als «ungeistlich» und «menschlich gemacht» anzusehen. Ihren Vorstellungen liegt letztlich ein platonisches Verständnis vom Wirken Gottes zugrunde: Geistlich ist, was Gott «direkt», eben senkrecht von oben, tut – Arbeit an Strukturen, planen, beharrlicher Gemeindebau und das Entwickeln neuer Modelle sind dagegen «menschliche Bemühungen» und damit – oft unausgesprochen – eben nicht so wertvoll, wenn nicht gar ungeistlich.

4. ...in die jeder hineinlegt, was er gern hätte

Gebet entwickelt Kraft, wenn zwei oder mehr Christen «eins werden, um was sie bitten wollen». Das Wort «Erweckung» bewirkt aber genau das oft nicht: Es ist fast ein postmodernes Schlagwort, ein Nebelbegriff, in den jeder sein Verständnis und seine Sehnsüchte hineinlegt, weil keiner so recht weiss, was man sich unter Erweckung nur vorstellen soll. Was für eine Art christlicher Gesellschaft stellen wir uns eigentlich vor, wenn wir um Erweckung – oder Erweckung 2, genannt «Transformation» – beten? Welche Art von christlicher Gesellschaft stellen wir uns vor? Peter Aschoff stellt die gleiche Frage:

«Wir müssen uns daher schon jetzt fragen: Wollen wir also ein fundamentalistisches Law-and-order-Christentum, das vermeintlich christliche Werte per staatlicher Dominanz durchsetzt? Das auch vor einer mehr oder weniger sanften Einschüchterung der Spötter und Kritiker nicht haltmacht? [...] Eine Klerikalisierung der Gesellschaft, die den Islam mit dessen eigenen Waffen zu schlagen versucht – der Repression?

Oder lassen wir es zu, dass sich Machtfantasien oder unterdrückte Minderwertigkeitsgefühle in triumphalistische Visionen umsetzen? Eine Vision, in der sich die fromme Subkultur zum gesellschaftlichen Machtfaktor ausdehnt? [...] Heben wir – wie in Amerika – wenigstens äusserlich die Sexualmoral, während die sozial Benachteiligten zwar Almosen, aber keine Chancengleichheit bekommen und Ökologie aus Kostengründen gestrichen wird?

Oder träumen wir weiter von Erweckung als dem Schlaraffenland, wo alles von selbst geht? Wo einem Nichtchristen aus unerfindlichen Gründen die Kirchentüren einrennen, um sich bekehren zu dürfen, ohne dass wir unserer Gemeinde-Egozentrik eine Absage erteilen müssen? Wo wir uns langwierige Lern- und Wachstumsprozesse schenken können, weil der Erfolg alles gnädig verdeckt? Wo all unsere geistlichen Probleme wundersam behoben werden?»

5. Weil es gern blind macht für das, was Gott dauernd tut

Erweckung ist ja kein biblischer Begriff, sondern eine kirchengeschichtliche Erscheinung der letzten Jahrhunderte, die ihren Sitz im Leben, in der damaligen Gesellschaft, auch in geistesgeschichtlichen Perioden hatte. Wenn wir uns an solchen Ereignissen orientieren, übersehen wir leicht, was der Heilige Geist heute dauernd und mitten unter uns – tut. Das Gebet um Erweckung kann einem die Freude am Heil und an der Gemeinde verdunkeln; es ist gern ein Herumreiten auf unseren Defiziten, geht von der Vorstellung aus, dass wir «tief im Minus» sind und nicht gehorsame Schritte, sondern nur übernatürliches Eingreifen von oben uns da raus bringt. Es kann darum letztlich passiv machen!

Ich sehe im Neuen Testament ein anderes Muster: Die Gemeinde war immer eine höchst unvollkommene Sache, ein menschlich-göttlicher Mix, was Jesus aber nicht hinderte, sie als Salz und Licht zu bezeichnen. Korrekturen sind dauernd nötig. Wir haben es noch nicht ergriffen, jagen ihm aber nach. Aber: Was ist Gott Grosses am tun – hier, heute, in Europa und in der Schweiz! Wie viel Veränderung und Einheit hat der Heilige Geist in den letzten Jahren in unserem Land geschenkt! Das lesen wir in der Regel nicht im «Blick», aber wir müssen es im Blick haben, sonst ehren wir Gott nicht und sind undankbar.

6. Weil nötige Schritte heute so gern vertagt werden

Die alten Schläuche, genannt «Gemeinde», brauchen heute dringend Ergänzung durch neue. Neue Strukturen, schlanker und effektiver, sind nötig. Klare Leiterschaft, die nicht bevormundet, sondern freisetzt, muss neu definiert werden. Wir brauchen – gerade in der postmodernen, spirituellen Herausforderung – mehr Qualität im Gemeindebau, regionale Vernetzung und den Mut zu Visionen. Und an der Basis gilt es, mit Geduld und Beharrlichkeit das Reich Gottes zu bauen, nicht nur auf neuesten Wellen zu reiten, mit der Führung des Heiligen Geistes bis in Details zu rechnen – und bei alledem das Feiern nicht zu vergessen.

Wenn das alles geschieht und man dann noch um Erweckung und Erneuerung betet – wohlan. Es darf aber nicht den Blick dafür schwächen, was man anpacken, ändern und wo man konkret gehorsam sein müsste. Geben wir es zu: Manches Gebet um Erweckung kommt aus einer Ungeduld, die die Gesetze jahrelanger Arbeit, von Säen, Reifen und Frucht nicht mehr akzeptieren will und nach dem Motto «Ich will alles und zwar sofort» eher ein Ausdruck pubertärer Instant-Erwartungen als wirklicher Glaube ist.

7. Weil es das Reich Gottes verdrängt

Das Reich Gottes ist eine umfassende Grösse – komplex, multi-dimensional, wachsend vom Kleinen ins Grosse und immer gleichzeitig schon da und noch nicht da. Es geht um eine neue Weltordnung, nicht nur um punktuellen Aufbruch.

Peter Aschoff schreibt: «Erweckung verdrängt das Thema der Herrschaft Gottes oder des Reiches Gottes von der Tagesordnung. Geschichtlich und kulturell bedingte Beispiele werden zum Mass der Dinge – mit der Gefahr, dass wir die Orientierung an Jesus selbst und seinem 'Programm' verlieren. Am Ende werden unsere Erweckungen, wenn sie denn kommen, weniger ganzheitlich, weniger missionarisch, weniger menschenfreundlich und weniger radikal sein als Gottes neue Weltordnung, die Jesus verkündet hat. Langfristig gedacht, können sie sogar kontraproduktiv wirken!»

Ora et labora

Wenn wir für Erweckung beten, müssen wir gleichzeitig bereit sein, uns hier und heute einzusetzen und sehr wach die Impulse Gottes in konkrete Schritte des Gehorsams umzusetzen. Wer wach ist, ist «erweckt».

Wenn wir so handeln, als wenn das Wachstum des Reiches Gottes von unserem Einsatz abhinge, wenn wir unsere Strukturen entschlacken und uns auf tausende von Bekehrungen vorbereiten und wenn wir alles tun, dass sich das Volk Gottes seiner Hauptaufgabe widmet – dann können wir um Erweckung beten, weil wir wissen, dass der entscheidende Segen von Gott abhängt. Es ist Gott sicher wohlgefällig, wenn wir sein Angesicht suchen und unsere Sünden bekennen. Und dann – aufstehen und an die Arbeit! 

Zum Thema:
8 Wochen statt 3 Tage: In West Virginia finden 4'000 Menschen neue Hoffnung
Nationaler Gebetstag 2016: «Jeder Erweckung gehen Busse und Heiligung voraus»

Datum: 14.07.2016
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet.ch

Kommentare

Sehr guter Artikel. Endliche mal einer, der es deutlich aussagt, was ich schon seit Jahren sage und von so manchem dabei schief angesehen werde: Erweckung ist zu einem evangelikalen Mythos geworden, ähnlich dem Heiligenkult in der kath. Kirche. Das gehört überwunden. Es gäbe noch viel dazu zu sagen, zum Beispiel dass viele Erweckungsromantiker eine völlig falsche Eschatologie haben und einen Dominionismus anstreben. Darüber sollte Livenet auch einmal berichten.
Was Herr Scharnowski aber vergisst ist, dass das Gebet den Beter selber immer selber auch bewegt. Wenn wir für Erweckung beten erhalten wir selber auch ein evangelistisches Herz. Beten für Erweckung und für andere Menschen vor allem verlorene Menschen lässt einen wieder das wesentliche Fokussieren. Oftmals beten wir für belanglose Dinge. Bestehen von Prüfungen, Reparatur des Auto, ja selbst einen Job ist im Blick auf die Ewigkeit ein belangloses anliegen. Lieber einen Job, dafür 10 Menschen die in die Hölle fahren oder umgekehrt? Beten für Erweckung verändert das eigene Herz. PS: Ich erlebe, dass Filme über Gebet beliebter sind als Gebet für Erweckung. Von Mode keine Spur.
Ein sehr guter Artikel, so vielseitig, dass ich gar nicht auf alle Punkte eingehen kann. Nur dies noch: Eine übertriebene Fixierung auf Erweckung hält uns u.a. davon ab, 1. dankbar und freudig zu sein für das, was Gott bereits heute tut (im Himmel wird jeder einzelne Bekehrte gefeiert!) – siehe Punkt 1 im Artikel -, 2. den Blick auf andere Weltregionen zu richten, wo es z.T. wirklich grosse Erweckungen gibt, 3. im Einklang mit Gottes Wort zu sein, welches für das Abendland gar keine endzeitliche Erweckung vorsieht. Das alles entbindet uns nicht vom Missionsauftrag, aber der Ertrag der Ernte ist nicht unsere, sondern Gottes Sache. Diesbezüglich ist Entspannung angesagt.

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