Man kann auch wieder eintreten
Kirchenmitgliedschaft aus einer anderen Perspektive
Wenn in der Presse von Kirchenmitgliedern die Rede ist, dann geht es meistens um den Mitgliederschwund aus Sicht der Kirchen. Doch was bedeutet die Wahlmöglichkeit aus der Perspektive der Mitglieder?
Wenn die grossen Kirchen ihre wieder einmal geschrumpften Mitgliederzahlen offenlegen, dann bestimmen zwei Schlagwörter die Diskussion. Die einen sprechen von einem gewissen «Gesundschrumpfen» und betonen, dass sich nun die wahren Gläubigen zeigen würden. Andere beklagen das Versinken in der «Bedeutungslosigkeit». Kann man noch von einer Volkskirche sprechen, wenn keine 20 Prozent des Volkes mehr darin sind?
Die Freikirchen halten sich meist aus diesen Gesprächen heraus, doch auch bei ihnen können die wenigsten auf ein signifikantes Wachstum verweisen. All diese Diskussionen werden allerdings aus Kirchensicht geführt. Wie geht es dabei eigentlich den Gemeindemitgliedern – denjenigen, die ein- oder austreten? Und könnte es sein, dass die Freiheit zur Kündigung tatsächlich eine grosse Freiheit ist?
Ich bin nicht gebunden
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es weitgehend klar: Einmal…, immer…! (Bitte hier die eigene Denomination einsetzen.) Das ist schon länger nicht mehr der Fall. Wenn ich umziehe, dann bin ich zwar in einer Freien evangelischen Gemeinde aufgewachsen und habe mich während des Studiums in einer Evangelischen Hochschulgemeinde engagiert, doch wenn die Baptistenkirche am neuen Wohnort einen guten Eindruck macht, dann besuche ich sie gern mit meiner katholisch getauften Frau.
Was sich so verdichtet für einige seltsam anhört, ist für viele längst Lebenswirklichkeit. Und dahinter steckt weder die Ablehnung einer Glaubensrichtung noch die Geringschätzung des Glaubens an sich. Im Gegenteil. Doch die eigene Mitgliedschaft sehe ich wesentlich fluider und beweglicher als vor etlichen Jahren. Das Schlagwort dazu lautet für mich: gebunden an Christus, nicht an eine bestimmte Kirche.
Ich suche trotzdem Anbindung und Verbindlichkeit
Manche Menschen wollen raus aus einer eher anonymen Landeskirche und suchen die familiäre Nähe einer kleineren Freikirche. Andere empfinden diese Nähe als Enge und wünschen sich eher die Weite eines grossen Kirchenschiffs und das Getragensein in der Liturgie. Ausserdem gibt es Christen, die es scheinbar in keiner Gemeinschaft länger aushalten und die regelmässig weiterziehen, doch das ist die Ausnahme.
Ich habe vielleicht andere Ansprüche und Erwartungen an «meine» Kirche, doch ich suche nicht die Unverbindlichkeit, sondern die Anbindung. Ich freue mich, wenn auch meine neue Gemeinde für mich ein Zuhause wird, wenn ich Menschen kenne und sie mich, wenn tiefe Beziehungen wachsen.
Ich kann aus- aber auch wieder eintreten
Daneben gibt es natürlich auch den Austritt wegen theologischer Unterschiedlichkeit, wegen Missbrauchsskandalen, wegen der Kirchensteuern oder menschlicher Probleme. Von kirchlicher Seite aus klingt es oft so, dass Menschen hier sehr schnell einen Schlussstrich ziehen, aber stimmt das?
Tatsächlich bin ich zu naiv, zu hoffnungsvoll und vielleicht auch einfach zu träge, um jedes Mal sofort zu gehen, wenn mir etwas nicht gefällt. Also bleibe ich und warte ab. Wenn aber irgendwann das Mass voll ist, dann bin ich nur schwer zu halten – dann gehe ich. Doch wenn sich Situationen oder Menschen ändern, dann zeigt sich, dass eine Gemeindemitgliedschaft nicht nur beendet, sondern auch wieder begonnen werden kann.
Allerdings gelten hier die gleichen bremsenden Faktoren wie oben beschrieben. Gerade an die Landeskirchen geht hierbei die Frage: «Möchtet ihr denn überhaupt, dass ich wieder zurückkomme? Dann tut bitte etwas dafür. Überzeugt mich – selbst wenn das mehr Aufwand bedeutet als das Warten auf den nächsten Täufling, der sich noch nicht wehren kann, wenn er in die Kirche getragen wird.»
Ich kann meinen Glauben auch anders leben
Ich erlebe Kirchen und Gemeinden oft in einem schizophren-widersprüchlichen Selbstverständnis. Einerseits heisst es demütig: «Wir sind fehlerhaft», andererseits wird schnell der Zeigefinger erhoben und ein Vers aus seinem Zusammenhang gerissen, um zu zeigen, wie unverzichtbar diese Kirche doch sei, «indem wir unsere eigene Versammlung nicht verlassen, wie es einige zu tun pflegen» (Hebräer, Kapitel 10, Vers 25). Ein Abschied von der Kirche ist nicht gleichbedeutend mit einem Abschied von Gott! Und die weltweite Gemeinde ist wesentlich mehr als die Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde. Ganz praktisch ist diese örtliche Bindung meistens sinnvoll, allerdings gibt es immer wieder Situationen, wo sie nicht möglich ist. Darüber hinaus gibt es – nicht erst seit der Corona-Pandemie – interessante Ansätze, den eigenen Glauben auch virtuell verbindlich gemeinsam zu leben.
Ich bin frei
Vor ein paar Jahrhunderten hätte ich als Christ meine Kirche nicht gewechselt – ich wäre höchstens gewechselt worden. «cuius regio – eius religio» hiess es damals: Wem das Land gehört, der gibt die Religion vor. Und wenn mein Fürst Protestant geworden wäre, dann wäre ich es eben ab sofort auch. Unvorstellbar ist das heute.
Genauso unvorstellbar ist es, dass ich zwar problemlos aus einer christlichen Kirche austreten kann, wenn ich nicht mehr oder anders glaube, 1,8 Milliarden Muslime weltweit diese Möglichkeit aber nicht haben. Ich werde als Muslim geboren oder bekenne mich später dazu – ein Austritt ist weder vorgesehen noch möglich.
Tatsächlich bildet die Möglichkeit, meine Kirche zu verlassen, eine grosse Freiheit. Ich kann gehen. Ich kann wechseln. Ich kann zu einem späteren Zeitpunkt wieder eintreten. Oder – völlig revolutionär gedacht: Ich kann auch aus vollem Herzen und gern in meiner Kirche bleiben, weil ich weiss, dass mich niemand anbindet und ich hier genau am richtigen Platz bin.
Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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