Mündiges Christsein
«Wir wollen Ehrlichkeit statt Heuchelei»
Die Heilsarmee Huttwil lebt eine Kultur der Offenheit und Ehrlichkeit. Ihre Mitglieder verstehen sich als lebendiger Teil der Gemeinde und werden zu einem mündigen Christsein im Alltag ermutigt. Gemeindeleiter Matthias Stalder im Interview.
Matthias Stalder (37) ist Leiter der Heilsarmee in Huttwil. Eine innovative Gemeinde, die dafür brennt, dass Gottes Reich im Alltag ihrer Mitglieder sichtbar und erlebbar wird. Um diesen Traum zu verwirklichen, wird viel Wert auf eine gesunde Identität in Jesus und einen mündigen Glauben der Gemeindeglieder gelegt. Doch was bedeutet das? Im Interview gibt Stalder Antwort.Livenet: Was bedeutet für Sie «mündiges Christsein»?
Matthias Stalder: Ich habe zwei Bibelverse, welche mein Verständnis begründen. Der erste ist 1. Thessalonicher, Kapitel 5, Vers 21: «Prüft alles, das Gute behaltet!» Eine Eigenschaft von mündigen Christen besteht in ihrer Fähigkeit zu prüfen. Der zweite Bibelvers findet sich im 1. Johannes, Kapitel 2, Vers 27: «Doch der Heilige Geist, den euch Christus gegeben hat, er bleibt in euch. Deshalb braucht ihr keine anderen Lehrer, der Heilige Geist selbst ist euer Lehrer.» Mein Anliegen ist es, Menschen in ein Leben zu führen, welches in Jesus verwurzelt ist. Christen, die in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes leben, sind nicht von der Meinung anderer Meinung abhängig, sondern schöpfen aus ihrer Beziehung mit Jesus.
Wie leiten Sie Ihre Leute konkret zu Mündigkeit an?
In unseren Predigten fordern wir die Zuhörer dazu auf, sich eine eigene Meinung zu bilden. Auf den Predigtnotizen formulieren wir konkrete Fragen, die zum Weiterforschen und Vertiefen des Gehörten einladen. Dies geschieht in unseren Kleingruppen, wo wir das Predigtthema gemeinsam weiterbearbeiten und für unseren Alltag fruchtbar machen. Hier lernen Neubekehrte von langjährigen, reifen Christen und umgekehrt.
Wie gehen Sie damit um, wenn Gemeindeglieder eine andere Meinung vertreten als Sie?
Wenn wir Leute zu einem mündigen Christsein ermutigen wollen, müssen wir in unseren Gemeinden eine Kultur der Offenheit und Ehrlichkeit entwickeln, die auch kontroverse Meinungen zulässt. Dies versuchen wir zu leben. Vor einigen Jahren hielt ich beispielsweise eine Predigt zum Zehnten. In der anschliessenden Lobpreiszeit kam ein Mann nach vorne und teilte öffentlich mit, dass er Mühe habe mit meiner Sichtweise. Er gab der Gemeinde ehrlich Einblick in seine Zweifel und sein Ringen mit diesem Thema. Ich habe das so respektiert und später das persönliche Gespräch mit dem Mann gesucht. Ich konnte persönlich vom Gespräch mit ihm profitieren.
Haben Sie als Pastor nicht den Anspruch, biblische Dinge besser zu verstehen als Ihre Gemeindeglieder?
Nicht unbedingt! Ich kann nicht im selben Atemzug mündiges Christsein propagieren und zeitgleich darauf pochen, dass meine Erkenntnis vollkommen ist. Ich bin auch als Pastor ergänzungs- und korrekturbedürftig. Ich sehe mich bewusst als Teil der Lerngemeinschaft «Gemeinde». In der Ergänzung erleben wir immer wieder, wie der Heilige Geist unsere Puzzleteile zusammensetzt und uns ein Stück mehr von dem herrlichen Bild sehen lässt, das wir erst in der Ewigkeit ganz erfassen werden.
Kann in Ihren Anlässen jeder öffentlich seine Meinung sagen?
Nein, natürlich nicht. Das wäre weder praktisch umsetzbar, noch in jedem Fall hilfreich. Unsere Kultur der Offenheit und Ehrlichkeit wurzelt stark in unseren Kleingruppen. Wir ermutigen unsere Leute, in diesem Rahmen vertraute, echte Beziehungen aufzubauen. Dazu gehört, dass man auch über unterschiedliche Ansichten und Zweifel reden kann. Eine solche Qualität von Gemeinschaft prägt die Gemeinde von innen her. Wer die Gemeinde als Ort erlebt, wo er ganz sich selber sein darf, der muss kein frommes Theater mehr spielen. Das wirkt sich unweigerlich auch auf die grossen Zusammenkünfte der Gemeinde aus.
Haben Sie dazu ein konkretes Beispiel?
Im Rahmen einer Konfirmation stellte ich den Schulabgängern einmal die Frage, welche Rolle Gott in ihren Zukunftsplänen spielt. Ein Konfirmand antwortete leicht provozierend: «Keine». Ihm war Gott offensichtlich egal. Ich sagte: «Danke für deine Ehrlichkeit!» und verzichtete auf einen weiteren Kommentar. Später im Gottesdienst ging jemand ganz sensibel auf den Jugendlichen ein – alles öffentlich. Das fand ich genial! Es ist mir einfach wichtig, dass bei uns niemand heucheln muss, um Wertschätzung zu erfahren.
Gibt es auch Grenzen? Wann greifen Sie ein?
Auch in einer offenen Kultur tragen die Leiter letztendlich die Verantwortung dafür, was öffentlich gesagt wird und was nicht. Die Grenzen sehe ich dort, wo Manipulation im Spiel ist, klare biblische Wahrheiten verzerrt werden oder respektlos miteinander umgegangen wird. Doch derartige Dinge erleben wir äusserst selten.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich träume davon, dass Menschen ihren Glauben aktiv und engagiert in ihrem Alltag ausleben. Christen, die Jesus in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft vertreten. Wenn ich als Pastor Menschen im gemeindeinternen Kontext lehre und ihnen die Schritte für das alltägliche Leben diktiere, wird dies im beruflichen Kontext kaum tragfähig sein. Mündige Christen sind jedoch in der Lage, ihren Glauben überall kompromisslos zu bekennen und zu leben.
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet
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