Mehr als nur geheilt
Das Wunder des aufrechten Gangs
Am Anfang der Apostelgeschichte steht die Geschichte eines Gelähmten, der Heilung erfährt. Aber dieser Mann erlebt mehr als ein medizinisches Wunder: Annahme, Zugehörigkeit, Heil und aufrechten Gang.
Ein Biologielexikon erklärt aufrechten Gang so: «Der aufrechte Gang mitsamt seinen anatomischen Umkonstruktionen gilt als entscheidendes Merkmal der Menschenartigen und war bereits bei den Vormenschen verwirklicht.» Aber was ist, wenn ich zwar ein Mensch bin, aber meine Beine nicht gebrauchen kann? Natürlich bin ich trotzdem ein Mensch, aber gehöre ich dazu?
Am Anfang seiner Apostelgeschichte erzählt Lukas von der Ausgiessung des Heiligen Geistes, davon dass die Menschen in Massen zum Glauben kommen und Christen werden. Danach nimmt er eine Person unter die Lupe und fragt: Wie sieht das konkret aus? Er beschreibt es anhand eines Gelähmten, der geheilt wird. Dabei geht es um Erwartungshaltungen. Und darum, wer wann dazugehört: Apostelgeschichte Kapitel 3, Verse 1–10.
Nichts ist so, wie es sein sollte (Verse 1–3)
Okay, erst einmal scheint alles so, wie es sein sollte. Denn Gebet mit den richtigen Leuten zur richtigen Zeit kann doch nicht verkehrt sein, oder? Jeden Nachmittag um drei trafen sich viele Juden aus Jerusalem im Tempel, um gemeinsam für alle möglichen Dinge zu beten. Das war mehr als ein «Der Priester betet und ich bin dabei». Jeder konnte hier seine Anliegen vor Gott bringen. Kirchen und Gemeindehäuser gab es noch nicht, also trafen sich dort auch die Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus.
An dieser Stelle kommt der Gelähmte ins Spiel. Er sitzt täglich an seinem Stammplatz vor dem Tempel und wartet auf Almosen. Die gelten damals zwar als «Recht der Armen», trotzdem hängen Bettelnde vom Wohlwollen der Vorbeigehenden ab. Unser Mann wird nicht mit Namen genannt. Er steht für die vielen, die hier und an anderen Stellen ihre Hände ausstrecken. Seit 40 Jahren ist er gelähmt. Für damalige Verhältnisse ist er bereits ein alter Mann – Hoffnung auf eine andere Zukunft hat er nicht mehr. Menschen wie er gehören längst zum Stadtbild. Man hat sich an sie gewöhnt. Auch daran, dass sie nicht zum Gottesdienst gehen konnten. Lahmheit galt damals nämlich nicht als Krankheit, sondern als Körperfehler, der davon ausschloss. Es musste gar kein Schild an der «Schönen Pforte» hängen «Wir dürfen hier nicht rein!». Das wusste unser Mann auch so.
Heute gibt es diese Gesetze nicht mehr, die Menschen aus der «Gemeinschaft der Heiligen» fernhalten. Oder doch? Was ist, wenn du alleinerziehend bist? Schwul? Hartz-IV-Empfänger? Aufsichtsrätin in einem DAX-Unternehmen? Anders denkst oder glaubst? Sorry, dann kann es gut sein, dass du bis heute nicht dazugehörst.
Mehr als Geld und gute Worte (Verse 4–6)
Der Bettler an der «Schönen Pforte» war Profi. Oft konnte er morgens bereits abschätzen, wie viel er abends nach Hause bringen würde. Aber heute ist alles anders. Da bleiben Sandalen mit dreckigen Füssen vor ihm stehen – und nichts geschieht. Dann hört er: «Sieh mich an.» Er schaut ins Gesicht von Petrus – eines einfachen Mannes aus Galiläa. Da ist wohl nichts zu erwarten. Doch der spricht weiter: «Silber und Gold…» – unserem Bettler wird kurz schwindelig – «habe ich nicht» – das hat er sich doch gedacht. Aber bevor er den Kopf sinken lässt, hört er noch: «Was ich aber habe, das gebe ich dir. Im Namen Jesu Christi, des Nazareners, steh auf und geh umher!» Das ist mal eine spannende Ansage.
Damals wie heute gibt es hauptsächlich drei Möglichkeiten, mit Krankheit und Not umzugehen: 1. Ignorieren und vorbeigehen. 2. Geld geben. 3. Reden (statt etwas zu tun). Petrus macht nichts davon. Stattdessen ergreift er die Initiative auf eine ganz besondere Art und Weise: Er sagt dem Gelähmten einfach, dass er aufstehen soll – im Namen von Jesus. Petrus teilt nicht aus, was er «hat», sondern was er von Jesus erwartet. Später im Tempel stellt er klar: «Ihr Männer von Israel, weshalb verwundert ihr euch darüber, oder weshalb blickt ihr auf uns, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser umhergeht? Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht» (Kapitel 3, Verse 12–13). Petrus traut sich, etwas völlig Verrücktes zu tun, weil er es gut mit dem Gelähmten meint. Das ist mit Geld und guten Worten nicht aufzuwiegen.
Stehen, gehen und neu sehen (Verse 7–10)
Eigentlich beschreibt Lukas mit dieser Geschichte die Erfüllung dessen, was er in seinem Evangelium in Kapitel 7 Vers 22 berichtet: «Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und berichtet dem Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde werden sehend, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote werden auferweckt, Armen wird das Evangelium verkündigt.»
Die Erzählung in der Apostelgeschichte hört sich gut an. Und sie ist gut. Aber sie lässt einiges aus: Auf der Treppe zur «Schönen Pforte» sassen viele Kranke, die nicht geheilt wurden. (Gab es sie? Wir wissen es nicht, aber es erscheint sehr wahrscheinlich, denn warum sollte an dieser prominenten Stelle nur ein Bettler sitzen?)
Von den Kranken, die Petrus am Vortag vergeblich heilen wollte, erzählt die Bibel nichts. (Gab es sie? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass die Apostel nicht jeden jederzeit heilen konnten)
Spannend ist ausserdem, dass in unserem Text keine Rede von Glauben ist. Das folgt erst später, als Petrus den Verantwortlichen im Tempel die Situation erklärt: «Und auf den Glauben an seinen Namen hin hat sein Name diesen hier stark gemacht, den ihr seht und kennt» (Kapitel 3, Vers 16). Aber wer glaubt nun, damit das Wunder passiert? Petrus? Der Gelähmte? Der Text lässt es offen.
Was Lukas allerdings herausstellt, ist das Ergebnis: Der ehemals Gelähmte steht an der Hand von Petrus auf. Er steht, er geht herum, er läuft und springt. Von seinen Halleluja-Rufen sagt die Apostelgeschichte nichts, aber das heisst nicht, dass er die ganze Zeit über still war. Wenn das kein aufrechter Gang ist…
Aufrechter Gang
Vor etlichen Jahren wurde die Anthropologin Margaret Mead von einem Studenten gefragt, was für sie das erste Zeichen von Zivilisation in einer Kultur wäre. Der Student erwartete, dass sie über Angelhaken, Tontöpfe oder Schleifsteine sprechen würde. Aber Mead erklärte, das erste Zeichen von Zivilisation in früheren Kulturen sei ein Oberschenkelknochen (Fremur), der gebrochen war und dann heilte. Sie begründete, dass man im Tierreich stirbt, wenn man sich das Bein bricht. Man kann vor keiner Gefahr weglaufen, nicht zum Fluss gehen, um zu trinken, oder nach Nahrung jagen. Man wird selbst zur Nahrung für umherstreifende Raubtiere. Kein Tier in der Wildnis überlebt ein gebrochenes Bein lange genug, damit der Knochen heilen kann.
Ein gebrochener Knochen, der verheilt ist, ist der Beweis dafür, dass sich jemand die Zeit genommen hat, bei demjenigen zu bleiben, der verletzt ist, seine Wunde zu verbinden, die Person in Sicherheit zu bringen und sie während der Genesung zu pflegen. Jemandem durch Schwierigkeiten hindurchzuhelfen, ist der Beginn der Zivilisation.
Und hier sind wir bei unserem Bericht aus der Apostelgeschichte. Es ist wunderbar, dass jemand geheilt wurde, der 40 Jahre lang gelähmt war. Aber aufrechter Gang bedeutet mehr als die Heilung eines Gelähmten. Er steht dafür, dass mehr heil wird als nur jemand, der nicht laufen kann. Es bedeutet, dass jemand dazugehört, der bis dahin «draussen» war. Dass das geschieht, was die Bibel Rettung nennt: dass Menschen mit der verändernden Gnade Gottes in Berührung kommen.
Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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