Ursprüngliche Bedeutung
Gnade neu buchstabiert
«Gnade» ist einer der zentralen christlichen Begriffe. Sie wird in praktisch jedem Gottesdienst erwähnt. Doch hinter dem Wort steckt ursprünglich viel mehr als ein göttlicher Verzicht aufs Bestrafen.
So wie wir im Deutschen viele Begriffe haben, die den Grundgedanken von Gnade beschreiben (Erbarmen, Güte, Barmherzigkeit…), gibt es auch im Hebräischen nicht nur ein Wort dafür. Am weitesten verbreitet ist hesed. Doch auch das Wort rechem wird oft dafür verwendet. Letzteres hat einen interessanten Ursprung, auf den der Gründer und Leiter des «Israel Bible Center», Dr. Eli Lizorkin-Eyzenberg, in einem Artikel hinweist.
Wenn die Bibel von Gnade spricht
«Denn der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben», heisst es in 5. Mose Kapitel 4, Vers 31. Und Klagelieder Kapitel 3, Verse 31–32 unterstreichen: «Denn der Herr wird nicht auf ewig verstossen; sondern wenn er betrübt hat, so erbarmt er sich auch nach der Fülle seiner Gnade.» Das hier verwendete Wort für Gnade ist rechem – und das ist kein Rechtsbegriff, sondern es hängt mit dem Wort für Mutterleib zusammen. «Gottes 'Barmherzigkeit' gegenüber der Menschheit bedeutet die gleiche Art von göttlichem Schutz, die ein Baby im Mutterleib geniesst», betont Lizorkin-Eyzenberg in Übereinstimmung mit deutschen Bibelwissenschaftlern.
Ein starkes Bild
Die hebräische Sprache kennt keine abstrakten Begriffe. Sie malt Bilder. Zorn stellt sie als «Schnauben durch die Nase» dar und Gnade unter anderem als Aufgehobensein im Mutterleib. Immer wieder wird das Bild in der Bibel aufgegriffen. Genau derselbe Gedanke steckt hinter dem Trost Jesajas in Kapitel 46, Verse 3-4: «Hört auf mich, o du Haus Jakob, und der ganze Überrest vom Haus Israel; ihr, die ihr vom Mutterleib an mir aufgeladen, von Geburt an von mir getragen worden seid: Bis in euer Greisenalter bin ich derselbe, und bis zu eurem Ergrauen will ich euch tragen. Ich habe es getan, und ich will auch fernerhin euch heben, tragen und erretten.»
Gottes Gnade reicht vom Austragen bis zum Hindurchtragen. Auch wenn wir geboren werden und den schützenden Mutterleib verlassen, beschirmt, bewahrt und trägt er uns immer noch auf die gleiche Weise. Gottes Gnade ist mehr als seine Vergebung, als ein «gnädiges Gefühl», sie ist ein Hindurchtragen durchs ganze Leben, durch Hoch und Tief. Und sie spiegelt die engste Beziehung wider, die möglich ist: die zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft.
Unendlich beschützt
Der Gedanke von Gnade als «Schutz im Mutterleib» löst die anderen Bedeutungen von Gnade nicht ab. Aber er ergänzt sie um einen Aspekt, der dem Volk Gottes schon immer wichtig war. «Mose wusste am Sinai um die Sicherheit von Gottes Barmherzigkeit. Das ganze Volk der Israeliten war sich der ständigen Fürsorge des Herrn bewusst. Die Propheten sprachen von der göttlichen Barmherzigkeit, die zur Rückkehr aus dem Exil führte, und die Psalmisten priesen ihren Schöpfer für die vielen Gnadenerweise, die sie im Gebet erhielten.» (Lizorkin-Eyzenberg).
Wer heute seine Bibel aufschlägt und die ursprüngliche Bedeutung von Gnade sieht, begegnet dem gleichen Gedanken und erfährt einen Gott, der «der barmherzig (rechem) und gnädig ist, langsam zum Zorn und von grosser Gnade und Treue» (2. Mose Kapitel 34, Vers 6).
Der Leiter des «Israel Bible Center» beschliesst seine Ausführungen mit der Geschichte eines chassidischen Rabbiners, der seiner Meinung nach das Wesen von Gottes Gnade verstanden hat.
Der Rabbi betete: «Herr, wir haben viele Sünden und du hast viel Vergebung. Ich schlage dir einen Handel vor: Warum tauschen wir nicht unsere Sünden gegen deine Vergebung?» Falls Gott ihm sagen würde: «Das ist kein fairer Handel!», hatte er sich als Antwort schon zurecht gelegt: «Ja, aber wenn wir keine Sünden hätten, was würdest du dann mit all deiner Vergebung anfangen?!»
Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth / Dr. Eli Lizorkin-Eyzenberg
Quelle: Livenet / Patheos.com
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