Vorsicht Feindbild
Pharisäer: Nicht so schlecht wie ihr Ruf
Sie gelten als biblischer Inbegriff für Gesetzlichkeit und Heuchelei. Doch dieses reduzierte Bild wird der jüdischen Bewegung der Pharisäer nicht gerecht. Wer waren die Pharisäer und was glaubten sie wirklich?Als der friesische Bauer Johannsen auf der Insel Nordstrand die Taufe seines Kindes feierte, war der Pfarrer selbstverständlich eingeladen. Der asketische Pfarrer Bleyer lehnte Alkohol strikt ab. Also gab es nur Kaffee zu trinken. Trotzdem wurde die Runde immer lustiger. Und irgendwann bemerkte der Geistliche, dass unter der Sahnehaube in den Kaffeetassen der anderen auch ein ordentlicher Schuss Rum war. «Ihr Pharisäer», schimpfte der Pfarrer und gab laut Legende (vgl. Wikipedia) damit dem Getränk seinen Namen. Gleichzeitig unterstrich er damit, wie die Volksmeinung zu den jüdischen Schriftgelehrten war: Sie galten und gelten als Heuchler, Selbstgerechte und massive Gegner der Christen. Doch die neuere Forschung zeichnet ein differenziertes Bild der jüdischen Schule.
Was sind eigentlich Sadduzäer und Pharisäer?
Im Neuen Testament werden zwei einflussreiche jüdische Untergruppen beschrieben, die Sadduzäer und die Pharisäer. Die Sadduzäer waren eher aristokratisch geprägt. Sie versuchten, politische Macht und die Leitung der Tempelgeschäfte miteinander zu verbinden. Zur Zeit von Jesus stellten sie die Hohenpriester und bildeten die Mehrheit im Hohen Rat, dem sogenannten Sanhedrin. Theologisch waren sie eher liberal – an eine Auferstehung glaubten sie zum Beispiel nicht.
Die Pharisäer hatten sich dagegen im zweiten Jahrhundert vor Christus als Gegenkraft gegen hellenistische Einflüsse auf die Juden gebildet. Zur Zeit von Jesus soll es um die 6'000 von ihnen in Israel gegeben haben. Ihr Ziel war es, dem überlieferten jüdischen Glauben im Alltag Raum zu geben. Sie gehörten meist der Mittelschicht an und hatten einen «normalen» Beruf. Ihre Mission verstanden sie darin, 2. Mose, Kapitel 19, Vers 6 zu lehren und umzusetzen: «Ihr aber sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein!» Konkret bedeutete das, dass sie die Regeln des Alten Testaments für die Priester auch auf das normale Volk ausdehnten.
Mit heute verglichen, war ihr Streben nach Heiligung und ihr möglichst konsequentes Nachfolgen dem vieler Evangelikaler sehr ähnlich, die die deutsche Bundeskanzlerin einmal mit «intensiv evangelisch» beschrieb. Tatsächlich haben sie bereits sehr früh die reformatorische Idee eines Priestertums aller Gläubigen vertreten. Weltfremd und vergeistigt waren sie jedenfalls nicht. Eine etwas ausführlichere Zusammenfassung zu den Pharisäern ist zum Beispiel hier zu finden.
Gesetzlichkeit oder Nächstenliebe?
Das obige Bild passt scheinbar kaum zu dem, was die Evangelien zeichnen, einem von rachsüchtigen und gesetzlichen alten Männern, die als blinde Führer «die Mücke aussieben, das Kamel aber verschlucken!» (Matthäus, Kapitel 23, Vers 24). Natürlich hat das Gesetz – es bildete die Basis der damaligen Bibel – eine wichtige Rolle bei ihnen gespielt, doch auch zentral «christliche» Werte wie Nächstenliebe war ihnen wichtig. So hören sich viele Äusserungen von Hillel dem Älteren sehr ähnlich wie die von Jesus an: «Was dir verhasst ist, das tue deinen Mitmenschen auch nicht an. Das ist die ganze Gesetzeslehre. Alles andere ist nur Erläuterung, geh hin und lerne sie», «Richte deinen Nächsten nicht, bevor du nicht an seiner Stelle stehst» oder auch «Liebe deinen Nächsten, er ist wie du».
Warum werden Pharisäer im NT so negativ dargestellt?
Dazu gibt es einige Vermutungen und Meinungen. Der britische Rabbiner Hyam Maccoby etwa sieht den «Rabbiner» Jesus sogar als Teil der pharisäischen Bewegung. Andere würden dies nicht unterstreichen, doch ist die häufige Verwendung von stark polemischen Äusserungen eher ein Anzeichen für inhaltliche Nähe als für total gegensätzliche Auffassungen. Tatsächlich hat Jesus zum Beispiel in der Bergpredigt prominente pharisäische Positionen vertreten (Hillels Meinung zu Nächstenliebe und Schammais Ansicht zu Ehescheidung). Etliche Ausleger betonen auch, dass die Evangelien zu einer Zeit geschrieben wurden, als sich die frühen Christen in starken Auseinandersetzungen mit den Juden befanden. Die Christen wollten sich deutlich von ihnen abgrenzen – und dazu benutzten sie sehr negative Darstellungen.
Spannend ist auch die Idee, dass viele der deftigen Auseinandersetzungen einfach der damals üblichen jüdischen Streitkultur entsprachen – und gar nicht so negativ gemeint waren, wie sie heute für uns klingen. (Aussagen von Jesus den eigenen Jüngern gegenüber sind manchmal genauso hart: «Weiche von mir, Satan!», sagt Jesus in Markus, Kapitel 8, Vers 33 sogar zu Petrus.) Völlig erklären lassen sich die Hintergründe nicht mehr. Allerdings sollen die vorhandenen Vorwürfe gegen die Pharisäer auch nicht einfach wegerklärt werden: Sicher haben sich viele von ihnen tatsächlich deutlich gegen Jesus gestellt. Doch wer sie ausschliesslich negativ sieht, tut ihnen unrecht.
Was wurde eigentlich aus den Pharisäern?
Ein wichtiger Pharisäer der neutestamentlichen Zeit hat nicht zuletzt auf Basis seines umfangreiches Bibelwissens einen grossen Teil des Neuen Testaments verfasst: Paulus. Aber auch im Judentum kommt den Pharisäern eine entscheidende Rolle zu: Nach der Zerstörung des jüdischen Tempels 70 n. Chr. lösten sich die Sadduzäer auf – ihre politischen Ambitionen waren genauso am Ende wie ihr Tempeldienst. Doch die Pharisäer als Praktiker des Glaubens fanden Wege, wie eine jüdische Identität ohne Tempel, aber durch Studium der Tora und gelebte Frömmigkeit trotzdem möglich war, bevor auch ihre Bewegung im Verlauf der Geschichte verschwand.
Manches in unserer Beurteilung der Pharisäer sagt mindestens ebenso viel über uns selbst und unsere Feindbilder aus wie über die jüdische Gruppierung. Heuchler findet man tatsächlich überall. Doch ein Blick in den Spiegel ist allemal anstrengender als der selbstgerechte Gedanke: «O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die … Pharisäer» (Lukas, Kapitel 18, Vers 9-14) – um das bekannte Gleichnis einmal umzudrehen.
Zum Thema:
Israels Geschichte als Inspiration: Wenn der Glaube in die Tiefe geht
Zum Tod von Carrie Fisher: Sie mochte die Idee eines Gottes, aber...
«Ihr Kleingläubigen»: Vier Ängste, die unseren Glauben schrumpfen lassen
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
Livenet Aktuell
- Home
- News
- Agenda
- Themen
- Gesellschaft
- Glaube
- Kirche & Co.
- Christliches Gemeindeleben
- Alpha-Kurs
- Erweckung/Erneuerung
- Evangelisation
- Frauen
- Gebet
- Gemeindeaufbau
- Gemeindegründung
- Jugendkultur
- Jüngerschaft
- Kinder- und Jugendarbeit
- Kleingruppen
- Lehre
- Leiterschaft
- Mitarbeit, Gaben
- Musik & Lobpreis
- Männerarbeit
- Prophetie
- Seelsorge/Christliche Psychologie
- Senioren/55Plus
- Theologie und Gemeinde
- Verkündigung/Homiletik
- Interkulturelles/Mission
- Kirchen, Gemeinden, Werke
- Christliches Gemeindeleben
- Leben
- People
- Wissen
- Video
- Anzeigen
- Adressen
- Community
- Lebenshilfe
- Service
- Arbeitsbereiche