Mehr als ein Buchtipp
N.T. Wright: «Plädoyer für die Psalmen»
Mitten in der Bibel steht das Liederbuch des jüdischen Volkes und gleichzeitig das Gebetsbuch der ersten Christen: die Psalmen. Sie haben einen hohen Stellenwert in der Kirche, doch fast niemand liest sie – jedenfalls nicht ganz. Deshalb verfasste N.T. Wright ein «Plädoyer für die Psalmen» mit dem Untertitel «Warum sie unentbehrlich sind».
Es gibt begnadete Theologieprofessoren, deren wissenschaftliche Arbeit die Diskussion in der Fachwelt voranbringt. Und es gibt gesegnete Pastoren, deren Verkündigung die Herzen von Menschen bewegt. Und manchmal gibt es beides in einer Person – wie bei N.T. Wright. Bei seinem im Juli erscheinenden «Plädoyer für die Psalmen» betritt der Neutestamentler scheinbar Neuland. Doch sein leicht zu lesendes und gleichzeitig tiefgründiges kleines Buch atmet den Geist eines Christen, der über Jahrzehnte von den Psalmen geprägt wurde. Hier begegnen sich Theologie und Schönheit der Sprache, persönliche Erinnerungen und herausfordernde Gedanken. Ein Buch, das man zweimal kaufen sollte, damit man eines verschenken kann. Worum geht es?Das Lebenselixier der Christen
Das grossartige Liederbuch im Herzen der Bibel war das tägliche Lebenselixier der frühen Christen und natürlich auch des jüdischen Volkes. Jesus und seine ersten Nachfolger kannten die Psalmen sicher auswendig. Auch wenn sie zu den ältesten Gedichten der Welt gehören, können die Psalmen es immer noch mit jeder anderen Poesie aufnehmen. Sie sind voller Kraft und Leidenschaft, entsetzlichem Elend und unbändigem Jubel, voller zarter Sensibilität und kraftvoller Hoffnung. Selbst die Übersetzung kann sie nicht schwächen. In scheinbar jeder Sprache und Kultur entfalten sie ihre Schönheit, trösten, verstören und erheben unsere Augen zum lebendigen Gott. Spielend überbrücken sie die Distanz von der Antike zu uns modernen Menschen. Gleichzeitig hilft ein Blick in Philosophie und Weltanschauung dabei, sie noch tiefer zu verstehen und nicht vorschnell falsche Schlüsse zu ziehen. Hierbei hilft N.T. Wright, ohne allerdings sein Ziel aus den Augen zu verlieren: «Dieses Buch [ist] weniger eine Einladung zum Studium der Psalmen […] – obwohl auch das eine unglaublich lohnenswerte Übung ist –, sondern eine Einladung, die Psalmen zu beten und auszuleben.» (S. 24)Die Gefahr der Verkürzung
Zwei typische Schwierigkeiten bei unserem alltäglichen Umgang mit den Psalmen benennt der britische Theologe in seiner Auseinandersetzung damit: Lobpreis und Lieblingsverse. Er geht an keiner Stelle auf Musikgeschmack ein oder die Frage, ob ein Schlagzeug in den Gottesdienst gehört. Wright fordert geradezu moderne Formen zum Singen der Psalmen. Seine Bedenken gehen in eine andere Richtung: «Man hat ein paar Psalmen in moderne 'Lobpreislieder' verwandelt und den Rest brachliegen lassen. Das ist das christliche Gegenstück zu einer Musikerin, die annimmt, sie könne auch ohne tägliches Üben immer noch auf dem für Konzerte nötigen Niveau spielen …» (S. 25)
Zu dieser inhaltlichen kommt für ihn die mengenmässige Verkürzung. Denn der Blick fürs Ganze, für die «Story dahinter» geht verloren, wenn das komplexe Buch der Psalmen auf die fettgedruckten Auswahlverse der Lutherbibel reduziert wird. Wenn sich Menschen dagegen allen Psalmen stellen, begegnen sie Jesus darin, merken, dass sie selbst ein «Gedicht Gottes» (Epheserbrief, Kapitel 2, Vers 10) sind und erleben, sich «Gottes grössere, reichhaltigere Welt vorzustellen, während sie die Psalmen beten» (S. 35).
An der Schnittstelle zwischen Gottes und unserer Welt
Im Hauptteil seines Buches beschreibt Wright eine besondere Eigenheit der Psalmen: Sie stellen für ihn eine Art Schnittstelle zwischen Gottes und unserer Welt dar. So wie im Tempel ein Stückweit Gottes Herrlichkeit hier auf der Erde gegenwärtig und erfahrbar war – und gleichzeitig weit darüber hinausging –, so geschieht dies auch in den Psalmen. Zeit, Raum und Materie sind dabei Wrights Schlüsselwörter. Für die Zeit entfalten die Psalmen in beispielloser Weise den Kontrast zwischen unserem Gefangensein im Hier und Heute gegenüber Gottes Ewigkeit. Gleichzeitig unterstreichen sie immer wieder, dass «wir an der Schwelle zwischen menschlicher Zeit und Gottes Zeit stehen, und […] dort sowohl Demut als auch Hoffnung lernen. Unsere Zeit ist nicht wertlos, aber jeder Wert, den sie haben mag, wird von Gottes Güte stammen, nicht von unserer Kontrolle über unsere Umstände» (S. 37). Psalm 90 betont dies anschaulich: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» (Psalm 90, Vers 12)
Die Entfaltung ihrer Kraft
Sehr praktisch und herausfordernd fasst N.T. Wright am Schluss seine Ausführungen zusammen: «Die Psalmen reden von Veränderung, aber noch wichtiger ist, dass sie Veränderung vermitteln: Veränderung in den Menschen, die die Psalmen singen, und Veränderung durch diese Menschen, wenn ihr verwandeltes Leben Gottes Freundlichkeit und Gerechtigkeit in die Welt bringt.» (S.128) Er bricht eine Lanze dafür, sich nicht die Rosinen herauszupicken und bei einigen Lieblingspsalmen stehenzubleiben, sondern das Buch der Psalmen ganz zu lesen. Sei es singend oder betend, gemeinsam oder allein. Wenn man täglich fünf Psalmen liest, kommt man in einem Monat komplett durch das gesamte Buch. Er zitiert dabei Billy Graham, der diese Gewohnheit pflegte – zusammen mit einem täglichen Kapitel aus den Sprüchen, weil die Psalmen ihm beibrächten, wie man mit Menschen auskomme. «Wir sollten die verwirrenden und verstörenden Teile zusammen mit den einfachen und 'schönen' Teilen sprechen oder singen. Wir sollten dem Gedankenfluss und dem Gleichgewicht der gesamten Sammlung erlauben, die Punkte zu vermitteln, die sie vermitteln wollen, inklusive der scharfen Höhen und Tiefen des Psalters, die vorhanden sind, um die Höhen und Tiefen des ganzen menschlichen Lebens zum Ausdruck zu bringen – unseres menschlichen Lebens.» (S. 129)
Das Buch erscheint Ende Juli 2015.
Zum Buch:
Schweiz
Deutschland
Zum Thema:
Klagepsalmen: So ehrlich, dass es wehtut
Das Geheimnis lüften: Wie man die Bibel richtig liest
Eine emotionale Verbindung: «Gebet – heilsamer Dialog mit Gott»
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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