Klagepsalmen
So ehrlich, dass es wehtut
Die Psalmen sind das Gebetbuch der Bibel. Doch wer sie liest, findet immer wieder Überraschendes – Gott wird angeklagt und angeschrien. Ein Lügner soll er sein. Und nicht jeder dieser Klagepsalmen endet mit einem versöhnlichen «Ich habe mich getäuscht». Jeder aber ist ein ehrliches Zu-Gott-Kommen.
In einem sehr lesenswerten und persönlichen Artikel zu den Klagepsalmen (hier der englische Text) schreibt der US-amerikanische Theologe Tremper Longman darüber, wie er mit seinem Freund und Kollegen an einer wissenschaftlichen Arbeit über die Klagepsalmen sass. Dann starb der Kollege überraschend mit 49 Jahren und Longman fand sich dabei, wie er seinen Kopf gegen die Wand schlug und dachte: «Gott, warum willst du mir so zeigen, was Klagen wirklich ist?»
Mit Gott reden, nicht über ihn
Klagen, auch in den Psalmen, ist etwas anderes als Murren oder Nörgeln. Während man hier (wie das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten) untereinander schlecht über Gott redet, wendet sich ein Klagepsalm direkt an Gott. Das ist fast schon der einzige Unterschied, denn die Wortwahl ist nicht unbedingt höflicher oder versöhnlicher: «Herr, wie lange wirst du mich noch vergessen?» (Psalm 13, Vers 2) ist ein Gebet, das man in unseren normalen Gottesdiensten nicht so oft hört. Es hat seinen Platz in den Klagepsalmen. Und ist sicher einer der Gründe, warum viele Christen, die moderne Lobpreislieder oft als flach empfinden, immer wieder zu diesen Psalmen zurückkommen. Weil sie ehrlich sind. Direkt. Bis an die Schmerzgrenze.
Schreien und Erinnern
Psalm 77 ist ein Beispiel für solch einen Klagepsalm. Asaf schrieb ihn in einer nicht genauer genannten Not. Gerade dies hilft uns heute noch, seine Gedanken zu unseren werden zu lassen. Seine Klage als unsere eigene mitzusprechen. «Ich rufe zu Gott, ja, ich schreie immer wieder, damit er mich endlich hört.» (Psalm 77, Vers 2)
Calvin nannte die Psalmen einmal «Spiegel der Seele», weil es kein menschliches Gefühl gibt, das hier nicht widergespiegelt wird. Und bei aller Dichtkunst steht am Anfang, nicht nur dieses Psalms, ein Schrei um Hilfe, voll Enttäuschung und Anklage. Der Psalmist versucht, seine bisherigen guten Erfahrungen mit Gott mit dem in eine Linie zu bringen, was er im Moment erfährt. Und er schafft es nicht. Es macht ihn wütend. Sprachlos. «Die Unruhe treibt mich umher, ich finde keine Worte mehr.» (Vers 5) Asaf denkt an seine Erlebnisse mit Gott, aber sie trösten ihn nicht länger. Trotzdem schaut er nicht nur aufs Jetzt, sondern auch in die Vergangenheit.
Gott, du lügst!?
Spätestens wenn die Vorwürfe gegen Gott drastisch werden, taucht in unseren Gemeinden oder in uns selbst gern ein innerer Polizist auf, der uns ermahnt: «Stopp, so nicht. Du versündigst dich.» Doch scheinbar hat Gott gar keine Probleme mit verbalen Entgleisungen. Asafs Behauptung «Ist seine Gnade für immer zu Ende? Gelten seine Zusagen nicht mehr?» (Vers 9) klingt in dieser Übersetzung noch recht fromm. Doch eigentlich bedeutet es: «Gott, hast du etwa gelogen?»
Es kann sehr hilfreich sein, seine Gedanken einfach einmal ungefiltert vor Gott auszubreiten und nichts dabei zurückzuhalten, sich – Entschuldigung! – einmal richtig auszukotzen. Gleichzeitig richten wir uns damit nämlich neu auf Gott aus, denn wir wenden uns an ihn. Und sei es so hilflos wie Petrus: «Herr, zu wem sollten wir denn gehen? Nur deine Worte schenken ewiges Leben.» (Johannes-Evangelium, Kapitel 6, Vers 68)
Neue Perspektive …
Was in dieser Zeit entstehen kann, ist eine neue Sicht für Gottes Handeln, ein neues Bewusstsein seiner Nähe. Asaf erlebt dies und unterstreicht recht unvermittelt nach seiner Klage: «O Gott, heilig ist alles, was du tust. Kein anderer Gott ist so mächtig wie du!» (Vers 14) Solch eine neue Perspektive entsteht nicht über Nacht. Sie lässt sich nicht «machen». Viele der Klagepsalmen haben einen versöhnlichen Schluss, einen Wechsel ins Positive. Oft bekommen wir nämlich inmitten von Problemen und Vorwürfen eine neue Sicht auf unsere Freiheit, auf unsere Geschichte, für Gottes Eingreifen – wie in Psalm 77 durch die Erwähnung des Exodus aus Ägypten. Dann bricht sich Ermutigung Bahn: Es gibt keine ausweglosen Situationen für Gott. Damals so wenig wie heute bei uns.
… aber auch Leben mit offenen Fragen
Gleichzeitig wissen wir, dass Gott nicht alles erklärt, nicht jeden Widerspruch auflöst. Christsein ist weder problembeladen noch ein Leben von einem Happy End zum nächsten. Manchmal erfahren wir Gottes Eingreifen und Dinge ändern sich. Und manchmal müssen wir mit dem leben, was Mystiker wie Johannes vom Kreuz als «dunkle Nacht der Seele» bezeichnet haben, als Noch-nicht-Erkennen von Gottes Licht in unserem Leben.
Tremper Longman schliesst seinen Artikel mit der Erkenntnis, dass Gott ihn bei sich halten kann, auch wenn er ihm keinen Fluchtweg zeigt. «Das erneute Lesen von Psalm 77 hat mein Problem der Trauer nicht gelöst, doch es hat mein Vertrauen gestärkt, mit Versuchungen umzugehen. Jesus entfernt Leid nicht aus unserem Leben, wenn wir ihm nachfolgen. Allerdings gibt er uns Hoffnung und sogar Freude beim Aushalten, weil wir wissen, dass es eines Tages für immer aufhört.»
Texte wie Asafs Psalm 77 laden uns ein, ehrlich vor Gott zu werden. Zu klagen. Uns zu beschweren. Uns an der Vergangenheit zu orientieren. Mit Hilfe zu rechnen. Und damit zu leben, dass Gott manchmal nur anbietet: «Ich ändere es nicht, aber ich bleibe bei dir…»
Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Jesus.ch / Christianity Today
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