Messianische Juden in Israel
«Viele haben von uns gehört»
Autor, Journalist, Familienvater, Marathonläufer und messianischer Jude mit interkulturellem Hintergrund. Dies sind ein paar mögliche Definitionen für Tuvia Pollack. Livenet sprach mit ihm über Trends in der Szene der «Messianics».
Sie sind uns aufgefallen als einer der Reporter für die Kehila News («Gemeinde-Nachrichten», ein Nachrichtenportal für Messianische Juden und Christen in Israel) und als jemand, der sich im multikulturellen Israel von heute auskennt. Und als jemand, der sich auch mit der Geschichte des alten Israels befasst. Welches ist Ihr persönlicher Hintergrund?
Tuvia Pollack: Als Enkel eines Holocaust-Überlebenden wurde ich in Schweden geboren. Mein Grossvater ist zu Beginn des zweiten Weltkriegs 1939 von Deutschland (Berlin) nach Schweden geflohen. Als ich 13 Jahre alt war, bin ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern nach Israel migriert. Sie sind jedoch nach fünf Jahren bereits wieder nach Schweden zurück. Ich habe also mit 18 für mich beschlossen, in Israel zu bleiben. Ich lebe in Jerusalem und bin da nun mit einer Schwedin in Israel (Anm.d.Red.: mit einer Christin aus Schweden) verheiratet und habe vier Kinder. Für mich ist es sehr wichtig, Israeli zu sein und im Heimatland des jüdischen Volkes zu leben (mit allen Verpflichtungen inklusive Militärdienst).
Aufgewachsen sind Sie jedoch auch unter Christen in Schweden. Sie leben nun in der jüdischen Kultur und bewegen sich auch in Israel immer noch in der christlichen Szene. Wie definieren Sie sich selbst? Messianisch-jüdisch? Christ? Gemischt?
Leute können mich nennen, wie sie wollen. Christ oder Messianisch. Was mir und uns jedoch wichtig ist, das ist unsere Anerkennung von Jesus als den Messias. Wir glauben also ans Neue Testament. Gleichzeitig halten wir an unserer kulturellen jüdischen Identität fest. So feiern wir auch die (bereits im Alten Testament erwähnten, jüdischen) biblischen Feiertage. Dadurch sehen wir auch einen Bezug zu Jesus Christus als den Messias. Es gibt Leute, die das Christentum nennen würden. Andere nennen es Messianisches Judentum. Für mich spielt das keine Rolle, wie sie mich nennen (lacht).
Wie würden Sie aber zwischen der christlichen und messianisch-jüdischen Kultur differenzieren?
Ich kann selbst nicht wirklich differenzieren zwischen den beiden. Es ist jedoch so, dass viele Israelis uns in Hebräisch als «Meshichim» (Yehudim Meshichim, also messianische Juden) bezeichnen und dies dann als «Christian» (Christen) übersetzen, wenn sie Englisch sprechen. Wie kann man da nun einen Unterschied machen? Es kommt also darauf an, mit wem man spricht. Bei Israelis würde ich persönlich immer gerne klären, dass ich den hebräischen Begriff «Meshichi» (Messianisch) bevorzuge und nicht «Notsri» (Christ). Währenddessen ist es mir in Englisch egal, ob ich nun als «Christian» oder «Messianic Jewish» bezeichnet werde. Ich bin auch nicht immer so sicher ob der Unterschiede, würde es allgemein aber so definieren: Messianisch-jüdisch sind Menschen, die sich an einer Art historischer, christlicher Glaubensrichtung orientieren, die jedoch auch an einer kulturell-jüdischen Identität festhalten. Ob Letztere dann auch noch theologische Standpunkte beinhaltet, dies ist dann wieder jedem Einzelnen überlassen.
Wie sind Sie mit beiden Kulturen und «Welten» verbunden? Mit Christen und mit Juden?
Ich folge zum Beispiel christlichen und jüdischen Facebook-Seiten, wenn das allein schon genügt für eine Aussage zu meiner Verbindung mit beiden Kulturen. Ebenso kann ich Rabbinische Auslegungen zur Parascha, zum wöchentlichen Tora-Abschnitt (Passagen aus dem Alten Testament), nachvollziehen wie ich auch theologischen Begründungen von orthodoxen oder katholischen Christen folgen kann. Mir gefällt es, beide Welten zu verstehen. Auch, wenn ich nicht immer mit allem einverstanden sein kann. Es ist auch Teil dessen, was ich bin. Ich bin ja auch Schwede und Israeli und meine Kinder wachsen dreisprachig auf (Hebräisch, Schwedisch, Englisch). Wir sind als Familie auch Teil einer Glaubensgemeinschaft, wo es Leute von verschiedensten Kulturen hat und die offiziell zumindest zweisprachig ist. In Israel ist es nichts Fremdartiges, wenn man Teil von mehreren Welten ist. Bereits in Schweden gehörte ich zu einer Kirche der Stadt Uppsala, die pro-Israel eingestellt war und wo ich christlich-jüdische Beziehungen erlebte.
Was beobachten Sie punkto Messianisches Judentum in Israel? Nimmt die Zahl der messianisch-gläubigen Juden zu?
Wir können es definitiv als wachsendes Phänomen beobachten. Es gibt mehr und mehr messianische Juden in Israel. Mehr denn je, würde ich sagen. Und obwohl wir uns zahlenmässig noch in den Zehntausenden bewegen, bekommen wir doch gerade auch allein durch diese Präsenz mehr Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Wir sind bedeutend genug, dass die Leute im Volk schon von uns gehört haben. Wir haben unsere eigenen Einrichtungen und Publikationen. Das ist auch ermutigend. Ich war unlängst an einer Klassenzusammenkunft mit Leuten aus meiner High School. Im Vorfeld dazu habe ich Leute über meinen Glauben informiert, während ich dies zur Schulzeit noch als Geheimnis für mich behalten hatte. Bei der Zusammenkunft haben mir einige andere Teilnehmende dann erklärt, dass sie messianisch-gläubige Mitarbeitende haben oder als Offizier in der Armee schon mit Messianics unter den Soldaten zu tun gehabt haben. Viele Leute haben also von uns messianisch Gläubigen gehört und das ist ermutigend. Es gibt auch eine grössere Offenheit und mehr Verständnis als es dafür in der israelischen Gesellschaft jemals gab, denke ich…
Welche Tendenzen lassen sich sonst noch feststellen? Gibt es mehr Gemeindegründungen und damit auch wieder mehr öffentliche Anerkennung?
Wie gesagt, es gibt mehr öffentliche Anerkennung. Darüber hinaus gibt es auch mehr messianische Glaubensgemeinschaften. Jedes Jahr kommen zwei bis drei neue Gemeinden dazu in Israel. Wir sehen also ein Wachstum. Auch bei speziellen Soldaten-Konferenzen kommen jeweils Hunderte von messianisch-gläubigen Soldaten zusammen. Also insgesamt mehr Akzeptanz in Israel heute, was etwa in den 1950er und 1960er-Jahren noch nicht so war. Es war etwas Fremdartiges bis hin zu völlig Unbekanntem. Da konnte man Hebräisch-sprechende Messianics noch an ein oder zwei Händen abzählen. Jetzt sind unsere Gemeinschaften viel grösser als sie das früher waren.
Wie bei den diversen christlichen Gemeinschaften lassen sich auch im messianischen Judentum verschiedene Strömungen beobachten. Und damit auch Differenzen untereinander. Kann man sagen, es ist noch keine Einheit da, wie bei den Kirchen auch nicht?
Ja, es gibt Meinungsverschiedenheiten – meist theologische Differenzen. Aber es gibt auch Bemühungen und Initiativen, um die Differenzen zu überbrücken. Wir wollen herausfinden und definieren, welche Differenzen wir gegenseitig akzeptieren können und wie wir dann immer noch zusammenarbeiten können. Die Unterschiede sind aber – würde ich sagen – in Israel andere als sie in anderen Ländern sind unter den Glaubensgemeinschaften. Und anders unter messianischen Juden als sie es unter christlichen Kirchen sind. Die Fragen sind oft zwar dieselben, manchmal aber auch ganz andere. Und sie werden nicht immer gleich debattiert. Es gibt da also einen Unterschied zwischen Kirchen und messianischem Judentum.
Wo lässt sich auch Harmonie feststellen im messianischen Judentum?
Es gibt bei uns kein Oberhaupt wie etwa der Papst bei der katholischen Kirche. Wir arbeiten jedoch alle in etwa demselben Rahmen und haben keine Organisation, die über uns allen steht. Wir haben jedoch eine lose Organisation, die unsere Gemeinden verbindet und mit uns allen in Kontakt ist. So werden etwa Treffen unter Ältesten arrangiert, also eine Art Ältestenrat. Oder es werden Gespräche unter verschiedenen messianischen Gemeinden koordiniert. Harmonie ist etwa da festzustellen, wo wir uns zu gemeinsamen Konferenzen treffen oder wo wir vereinbaren, auf welche Gemeinsamkeiten wir uns fokussieren wollen, anstatt uns durch Differenzen trennen zu lassen. Was Kirchen im weitesten Sinne ja trennt, sind Streitfragen wie: Soll man Kleinkinder taufen? Oder soll man Erwachsene taufen? Oder die Debatte über die reelle Präsenz von Jesus bei der Kommunion (der Gabe von Brot und Wein). Im Messianischen Judentum wollen wir allgemein zu den Quellen des Alten und Neuen Testaments gehen und nicht den Kirchenvätern und ihren Anordnungen folgen, da diese danach kamen. Es kann sein, dass wir mit gewissen theologischen Überlegungen eine Übereinstimmung finden mit den Kirchen. Jedoch haben diese auch den Sabbat und jüdische Feiertage als irrelevant befunden und so ist dies irrelevant für uns. Für uns ist auch klar: Die Taufe kommt als bewusste Glaubensentscheidung und die Kommunion ist für uns symbolisch. Es kommen bei uns weitere Fragen dazu, wo sich die Geister scheiden, wie: Akzeptieren wir Gaben des Heiligen Geistes als charismatisches Geschenk? Und sind die Tora-Gesetze, die Regeln aus dem Alten Testament, für uns auch heute noch relevant?
Also einiges, was die weltweite Kirche und Nachfolger von Jesus noch trennt. Welches könnte speziell auch von messianischen Gemeinden ein gemeinsames Ziel sein?
Die Rettung von Israel – oder? Das sollte doch ein Ziel von uns allen sein. Ich jedenfalls freue mich immer, wenn jemand gerettet wird (Anm. d. Red.: sich zur Nachfolge von Jesus entscheidet und an ihn glaubt) – egal ob der theologische Kontext nun anders ist von meinem. Aber es bedeutet doch immer, dass jemand vom Tod zum Leben gekommen und gerettet wird. Ich denke, wir müssen uns wirklich mehr auf unsere Gemeinsamkeiten fokussieren und uns freuen, wo Harmonie gelingt. Auch mehr in unsere Jugend, Familien und Kinder investieren, damit wir sie in die Nachfolge begleiten können. Bei kleinen Gemeinschaften ist auch eine Herausforderung, dass man spirituelle und psychologische Dienste aufbaut, die zum Beispiel der Traumabewältigung dienen können. So etwas fehlt bei kleinen Gemeinden auf weiten Strecken – finde ich.
Die Messianischen Gemeinden bilden also nach wie vor eine Minderheit – auch im multikulturellen Israel von heute. Welches sind da noch weitere gemeinsame Herausforderungen?
Je mehr wir wahrgenommen und auf der einen Seite akzeptiert werden in der Gesellschaft, desto mehr kann es auf der anderen Seite zu Verfolgung kommen. Die Religiösen Behörden und speziell das Rabbinat möchten uns delegitimieren. Diese Art der religiösen Verfolgung geschieht auch nicht immer an der Oberfläche. Es kann sein, dass Gemeinschaften für etwas Kleines und Unbedeutendes juristisch belangt werden. Dies soll dann unsere Aufmerksamkeit ablenken. Und statt uns auf die Verbreitung des Evangeliums zu fokussieren, müssen wir uns dann mit solchen Dingen befassen.
Wir behalten es meist für uns und möchten da sicher nicht christliche Antisemiten auf den Plan rufen, die uns da allenfalls (gegen orthodoxe Juden) zur Hilfe eilen würden. Wir müssen uns vom christlichen Antisemitismus auch ganz klar distanzieren und dürfen nicht damit in Verbindung gebracht werden. Wir möchten das Licht und die Liebe von Jesus erstrahlen sehen und dies – mit dem Evangelium – unter unserem jüdischen Volk verbreiten. Dem Volk, das wir lieben. Und dafür werden wir halt von rabbinischen Juden verfolgt. Das gehört halt dazu.
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Autor: Georg Hoffmann
Quelle: Livenet
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