Eine Nonne hilft Flüchtlingen

«Der Reissverschluss eines Zeltes schützt nicht»

Die syrisch-orthodoxe Nonne Hatune Dogan, Leiterin des Hilfswerks «Helfende Hände», setzt sich im Nahen Osten für verfolgte Minderheiten ein. Vor kurzem ist sie von einem Einsatz in Irak und Syrien zurückgekehrt. Im Interview mit pro berichtet sie von der Situation dort und fordert: Damit die Wiege der Christenheit nicht leer wird, muss dort eine internationale Schutzzone eingerichtet werden.

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Hatune Dogan hilft verfolgten Christen im Nahen Osten.
Hatune Dogan ist in der Türkei aufgewachsen, wo sie als Angehörige einer Aramäisch sprechenden christlichen Minderheit Diskriminierung und Verfolgung erlebt hat. Mit 14 Jahren kam sie als Flüchtling nach Deutschland. Sie liess sich zur Krankenschwester, Theologin und Psychotherapeutin ausbilden, trat in ein Kloster ein und gründete schliesslich das Hilfswerk «Helfende Hände». In ihrem Buch «Ich glaube an die Tat. Im Einsatz für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak», das im Brunnen-Verlag erschienen ist, beschreibt sie die Schicksale syrischer und irakischer Flüchtlinge. Vor kurzem war sie wieder im Nahen Osten und berichtete danach dem Christlichen Medienmagazin pro von ihren Erlebnissen:

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Cover von Hatune Dogans Buch
Sie waren jetzt im Nahen Osten - wo genau sind Sie gewesen? Was haben Sie gemacht?
Ich war in der Türkei, im Irak und in Syrien. In der Türkei haben wir syrischen und irakischen Flüchtlingen je 50 oder 80 Lira (umgerechnet etwa 15 bis 20 Euro) gegeben, je nach dem, was an Spenden bei uns ankommt. Wir verteilen das Geld mit eigenen Händen. Da ich Psychotherapeutin bin, kommen auch Menschen auf mich zu, die traumatisiert sind. Die Flüchtlingslager sind überfüllt, und manche fühlen sich dort auch nicht sicher. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge hält sich ausserhalb der offiziellen Lager auf. Zu ihnen kommt keine Organisation, sie leiden besonders. Diese Leute besuche ich.

Was haben die Menschen erlebt, die Sie getroffen haben?
Im Nordirak leiden besonders schwangere Frauen, sie haben nicht genug zu essen und zu trinken, haben Schmerzen. Ich habe deshalb ein Projekt ins Leben gerufen, um Mobilkliniken für Lager zu organisieren. Es gibt ausserdem viele Leute, die von Mücken gestochen werden, welche vorher auf verwesenden Leichen waren. Sie bekommen dann schwarze, eitrige Beulen. Medizinische Hilfe ist besonders wichtig. Die meisten Flüchtlinge im Nordirak sind Jesiden, das ist die vorchristliche Urreligion. Leider haben sie schon viele Völkermorde erlebt. Jetzt haben sie Angst vor dem nächsten.

Inwiefern spielt die Religion in den Geschichten der Menschen eine Rolle?
Christen und Jesiden werden hauptsächlich aufgrund ihrer Religion verfolgt, aber auch weil sie die Ureinwohner des Landes sind. Die Islamisten wollen sie weghaben, damit alle Ölquellen und Reichtümer des Landes für sie bleiben. Wer sich nicht bekehrt, muss leiden. Das betrifft Christen und Jesiden, zunehmend auch Schiiten.

Geht die Gefahr ausschliesslich vom IS aus?
Nein, vor IS war das Problem schon genauso da. Zum Beispiel durften Christen nie etwas auf dem Markt verkaufen, das wäre unrein. Sie sind Menschen zweiter Klasse. Auch in der Türkei. Ich bin in der Türkei aufgewachsen – bis heute haben die Christen faktisch keine Rechte. 2008 kam die Regierung und hat unsere christlichen Dörfer beschlagnahmt und verbrannt. Im Irak und in Syrien ist es genauso, die Minderheiten gelten mehr oder weniger als Freiwild.

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Flüchtlinge im Nahen Osten
Haben die Christen und andere Religionen in den Flüchtlingslagern die Möglichkeit, ihren Glauben zu praktizieren, etwa Gottesdienste zu feiern?
In Flüchtlingslagern gibt es keine Gottesdienste. Ich würde sogar sagen: In Flüchtlingslagern gibt es keine Christen. Wenn die Christen untergebracht sind, dann in kirchlichen Räumen, in Sportclubs oder privat. In Flüchtlingslagern gab es immer wieder Übergriffe auf Christen, deshalb versuchen sie bewusst, dort nicht hinzugehen. Der Reissverschluss eines Zeltes kann eine Familie nicht schützen.

Gibt es Hoffnung, dass diese Menschen in absehbarer Zeit in ihre Heimat zurück können?
Das Vertrauen ist zerstört. Ein jesidischer Scheich, der in Bagdad mit Regierungsvertretern gesprochen hatte, kam danach zu mir und sagte: «Schwester, bitte nehmt alles, was weiblich ist, von uns weg. Bitte nehmt das nach Europa.» Die Leute haben Angst. Die einzige Möglichkeit für die Flüchtlinge, jemals wieder zurückzukehren, wäre die Einrichtung einer Schutzzone für Christen und Jesiden. Sie müsste allerdings von der internationalen Politik eingerichtet und gesichert werden, nicht von lokalen Regierungen, da ist kein Vertrauen mehr vorhanden. Wenn das nicht zustande kommt, sollte man die verfolgten Minderheiten, also maximal zwei Millionen Menschen, auf Europa, Amerika und Australien aufteilen. Ich bevorzuge eine Schutzzone, damit die Wiege der Christenheit nicht leer wird. Ein Baum lebt von seinen Wurzeln. Und die sind dort im Nahen Osten.

Sie sind selbst einmal als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Hat sich zwischen der Situation von Flüchtlingen damals und heute etwas verändert?
Es gibt ja heute auch Wirtschaftsflüchtlinge. Es wäre schön, wenn man die Länder, aus denen sie kommen, nicht ausbeuten würde. Damit die Menschen Entwicklungschancen in ihren eigenen Ländern haben und nicht fliehen müssen. Da wäre die internationale Wirtschaft und Politik in der Verantwortung. Was sich noch verändert hat: Als wir damals als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, waren die Türen alle offen. Jetzt hat sich das verändert, die Menschen haben Angst und schliessen alles mit vier Schlössern ab.

Wie sehen Sie die aktuelle Flüchtlingsdebatte?
Für die verfolgten Minderheiten muss die Tür aufgemacht werden, wenn sich eine Partei dagegen sträubt, ist das falsch. Ich bin aber nicht dafür, dass Europa jeden aufnimmt, der kommt und sagt, «ich werde verfolgt». Es gibt Leute, die sagen, sie seien vor dem IS geflohen, und in Wirklichkeit selbst Islamisten sind. Gerade diejenigen, die Geld durch Menschenschmuggel und durch Mädchenverkauf kassieren, können sich die Fahrt nach Europa leisten. Und die Minderheiten, die unterdrückt und verfolgt werden und meist arm sind, bleiben da! Das darf nicht sein.

Sie erleben viel Leid und hören von sehr vielen schlimmen Geschichten. Wie halten Sie das aus?
Ich kenne die Verfolgung, ich bin selbst ein orientalisches Mädchen gewesen. Ich habe diese Verfolgung tagtäglich erleben müssen. Vier Mal wurde ich fast vergewaltigt. Ich spüre mit, wenn ein Mädchen erzählt, was passiert ist. Verzweifelt bin ich nicht unbedingt. Ich bin zufrieden mit dem, was ich tue. Ich kann nicht die ganze Welt retten, aber der Person der ich geholfen habe, habe ich geholfen. Das zählt. Tausend Kilometer fangen mit einem Schritt an.

Was können Menschen hier in Europa für die Situation im Nahen Osten tun?
Tut etwas, damit die Politiker sich bewegen! Organisiert Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, schreibt Briefe an Politiker, macht Druck. Aber auch spenden, damit die Menschen überhaupt was zum Leben haben, was zum Anziehen, jetzt, wenn der Winter kommt. Auch beten, dass Frieden geschaffen wird, dort, genauso wie hier. Wer will, kann auch mit mir mitkommen. Ich weiss, es ist riskant. Aber ich habe mein Leben Matthäus 25 Vers 4 gewidmet. Da stehen die Worte Jesu: «Was du dem Geringsten deiner Mitmenschen getan hast, hast du mir getan».

Zum Buch:
Hatune Dogan –«Ich glaube an die Tat» (Schweiz / Deutschland)

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Datum: 28.08.2015
Autor: Judith Schmidt
Quelle: PRO Medienmagazin

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