Als Blinder leben
Raymond Timm: Blind und trotzdem dankbar
Raymond Timm ist durch einen Unfall seit über 30 Jahren blind. Er war trotz Blindheit viele Jahre Lehrer am tsc auf St. Chrischona. Im Livenet-Interview erzählt er, was damals geschah und wie sein Leben seither verlief.Livenet: Raymond Timm, was geschah genau vor über 30 Jahren?
Raymond Timm: Im Jahre 1988 waren meine Frau, unsere zwei Töchter (3 und 5 Jahre alt) und ich im Auto unterwegs. Ich überholte und übersah dabei
ein entgegenkommendes Auto. Wir fuhren frontal in einen LKW. Alle wurden
schwer verletzt und spüren die Folgen des Unfalls auf verschiedene Art bis
heute. Ich wurde mit voller Wucht von den Fensterholmen gerade auf Augenhöhe
getroffen, was meine Augen unwiederbringlich zerstörte, obwohl die Ärzte noch
versuchten sie zu reparieren. Meine Frau, die neben mir sass, ist kleiner und
wurde am Oberkopf getroffen und hatte eine grosse Schnittwunde.
Ich bin dankbar, dass trotz den Auswirkungen, die alle noch spüren, keines meiner Familienmitglieder mir je Vorwürfe gemacht hat.
Haben Sie sich auch die Frage gestellt, wo Gott in diesem Unfall war?
Ja, aber erst etwas später. Die ersten zehn Tage nach dem Unfall war ich im Koma, und als
ich aufwachte, musste ich mich erst orientieren und realisieren, dass ich blind bin. Schon nach drei Wochen habe ich Gott gefragt: Was soll das jetzt, was willst du von mir? Gott zeigte mir klar, dass ich nun als blinder Mensch für ihn
Zeuge sein sollte. Ich wusste auch immer ganz klar, dass der Teufel mir mit
diesem Unfall kein Bein gestellt hatte, aber beteiligt war. Ich hatte das Gefühl, dass
Gott mir sagte, dass er es nicht zugelassen hat, sondern die Verantwortung
dafür übernimmt.
Lassen Sie mich das mit der Verantwortung etwas erklären: Das ist für mich so ähnlich, wie wenn ich mit meiner Tochter einer befahrenen Strasse entlang gehe, sie sich von meiner Hand losreissen will und ich sie gehen lasse. Rennt sie dann auf die Strasse und wird von einem Auto angefahren, kann ich nicht sagen, dass ich es zugelassen habe, sondern muss die Verantwortung übernehmen. Genau so hat auch Gott für mich die ganze Verantwortung übernommen. Ich sehe aber auch, dass Gott mich vorbereitet hat. Ich bin mit einem Geburtsgebrechen geboren worden, mit einer Lähmung am Oberarm, und habe lernen müssen, mit einer Behinderung zurecht zu kommen. Als ich dann erblindete, wusste ich, dass ich auch damit umgehen könnte.
Wie ging es dann weiter und wie hat Ihre Umgebung darauf reagiert?
Zuerst musste ich eine Blindentechnische Grundausbildung absolvieren, in der ich lernte, mit
einem Blindenstock zu gehen, einigermassen
ordentlich zu essen und Blindenschrift zu lesen. Alle sagten mir, dass ich
mindestens ein Jahr brauchen würde, um wieder bei Kräften zu sein, aber es war schon nach zehn
Monaten soweit. In der Blindenausbildung hatte ich super Lehrer,
die sich für uns Zeit nahmen. Wieder Zuhause, musste ich auch da lernen, mich
zu orientieren. Aber nun wollte ich unbedingt wieder arbeiten. Zum Glück war mein
damaliger Vorgesetzter sehr verständnisvoll und liess mich zwei Stunden in der
Woche unterrichten. Ich hatte noch keinen sprechenden Computer, der mir hätte
helfen können. Deshalb musste ich alles aus dem Gedächtnis vortragen. Als erstes bekam
ich dann einen Scanner, der Bücher einscannt und sie mir vorliest. Der kostete
damals DM 45'000.-! Ich war überwältigt und dankbar, so ein teures
Arbeitsinstrument zu bekommen.
Sie haben einmal erzählt, dass Sie oft unter Schwindel leiden. Können Sie dazu etwas mehr sagen?
20 Jahre nach dem Unfall traten diese Schwindelanfälle auf.
Mir ist mittlerweile eigentlich dauernd schwindlig. Diese Schwindelanfälle
wollte ich nicht und habe das Gott auch gesagt. Ich verstand es nicht. Was
sollte das jetzt! Gott hat über 10'000 mal meinen Klagen zugehört und zu mir
gesagt: Vertrau mir einfach! Gott ist mir in dieser Zeit nicht ausgewichen, er
hat mein Fragen ausgehalten und zugehört. Die Schwindelanfälle gingen nicht
weg, die Situation hat sich nicht verändert, aber ich habe mich verändert. Ich
konnte ein Ja finden zur Situation. Ich musste ganz auf den Boden kommen,
musste alle Gänge zurückschalten um neu zu begreifen, dass Gott in Jesus zur
Erde gekommen ist und für mich gelitten hat.
Dieser Gott, der all das auf sich nahm, liebt mich total und darum kann ich ihm
vertrauen. Wenn ich ins Selbstmitleid fallen will, erinnere ich mich an all das
Gute, das ich habe.
Was mir immer ein Gräuel war, ist Selbstmitleid. Obwohl es ja manchmal verlockend wäre, so im Selbstmitleid zu versinken, habe ich schnell gemerkt, dass es eine Falle ist, aus der man nicht mehr herauskommt.
Und wie geht es Ihnen heute....?
Ich habe eine wunderbare Frau, mit der ich viel unternehmen
kann. Manchmal fahren wir
nach Basel, laufen über die Rheinbrücke und sind glücklich, dass wir einander haben.
Auch die letzte Stunde, manchmal auch nur die letzten Minuten jedes Tages
gehören uns als Ehepaar. Diese gemeinsamen Zeiten haben unsere Ehe stark
gemacht. Heute habe ich auch eine grosse Computeranlage für Blinde, welche mir
hilft, Bücher zu lesen. Da ich fast im Pensionsalter bin, werde ich mich in den
nächsten Monaten zur Ruhe setzen und die Zeit mit meiner Frau geniessen.
Zum Thema:
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Autor: Barbara Rüegger
Quelle: Livenet
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