Grosser Respekt vor Autisten
«Autisten sind ein Gewinn für unsere Gesellschaft»
Heute spricht man zunehmend von einer Autismus-Spektrum-Störung. Im Grosshaus Aeschi finden betroffene Jugendliche ein Zuhause und werden individuell gefördert.
Seit 28 Jahren arbeitet Urs Merian im Internat Grosshaus. In Diemtigen (BE) war er bereits in der Pionierphase der Organisation involviert und aktuell leitet er das Grosshaus Aeschi, wo Jugendlichen mit Autismus ein Zuhause finden.
Individuelle Förderung statt Outdoor Abenteuer
«Wir erhielten vermehrt Anfragen, um Jugendliche mit einer Autismus Diagnose aufzunehmen», blickt Merian zurück. «In Diemtigen werden herkunftsmilieugeschädigte Jugendliche aufgenommen, junge Menschen, die im öffentlichen Schulsystem nicht mehr integriert werden können. Die Erlebnispädagogik ist dabei ein Schwerpunkt. Die meisten Jugendlichen im Autismus-Spektrum sind jedoch nicht in der Lage, beispielsweise im Wald schlafen zu gehen. Sie müssen auf anderen Ebenen abgeholt und gefördert werden.» Im Grosshaus Diemtigen werden jährlich acht Wochen Lager organisiert, was für die Teilnehmenden einen grossen Gewinn darstellt.
Im Gegensatz dazu ist der Lagerbetrieb für Menschen mit Autismus oft eine Überforderung. «Aufgrund der Notwendigkeit wurde mit der Planung für ein Angebot für Jugendliche mit Autismus begonnen.» In der Folge konnte 2017 ein entsprechender Standort in Aeschi mit zehn Plätzen in Betrieb genommen werden. Er beinhaltet für die Kinder und Jugendlichen ein Zuhause und eine eigene Schule, wo sie individuell gefördert werden.
Manche Autisten sind hochbegabt
«Entsprechend unseres christlichen Menschenbildes wollen wir Menschen nicht aufgrund ihrer Eigenschaften verurteilen. Besonders gilt es auch, jemanden zu respektieren, den man nicht versteht.» Um dies zu praktizieren, bietet das Grosshaus Aeschi eine hervorragende Möglichkeit. «Wir sind tagtäglich mit Ängsten, Phobien und eigenartig scheinendem Verhalten konfrontiert.» Manchmal sei es tatsächlich schwer, sich in diese Jugendliche hineinzuversetzen und dann brauche es viel Zeit und Geduld, bis diese sich verstanden fühlen.
Die Herausforderung, dem Gegenüber mit Verständnis zu begegnen, ist aber nicht nur einseitig. «Genauso geht es auch den Autisten im Umgang mit neurotypischen Menschen.» Die Arbeit erlebt Merian aber auch als spannend und wertvoll, denn bei Jugendlichen mit Autismus gibt es viel zu entdecken. Viele von ihnen seien überdurchschnittlich intelligente Menschen. In einem gewissen Bereich mögen sie sogar Aussergewöhnliches erreichen, während andere Bereiche auf der Strecke bleiben. «Sie sind auf eine Sache konzentriert, die ihnen entspricht und in welcher sie Erfolgserlebnisse machen. Gegenüber anderem schotten sie sich dann ab.»
Merian betont aber, dass nicht allgemein über «die Autisten» gesprochen werden kann. «Jeder Mensch ist einzigartig und auch Autismus drücke sich bei jedem etwas anders aus. Wir haben Jugendliche, die sich das Klavierspielen alleine, im Selbststudium aneignen. Einige können nicht einmal Notenlesen. Es ist aber erstaunlich, wie viel sie sich aneignen können.» Dasselbe gelte auch für Tätigkeiten wie Zeichnen und andere.
«Autisten sind wertvolle Menschen»
Die häufig verbreitete Meinung, dass Autisten nicht zu Empathie fähig sind, kann Merian nicht bestätigen. Es gebe zwar durchaus Dinge im sozialen Umgang, die sie schlecht oder nicht interpretieren können. Wenn sie aber ein Verhalten verstehen, können sie durchaus Anteilnahme ausdrücken. Warme Beziehungen aufzubauen sei schwierig und nehme meistens viel Zeit in Anspruch. Es sei aber möglich. «Der Autist ist sehr wertvoll. Wir müssen nur versuchen, ihn zu verstehen. Autisten sind ein Gewinn für die Gesellschaft und es gilt, ihre Stärken zu fördern.»
Es gebe Jugendliche, deren Situation hoffnungslos scheint. Merian ist aber überzeugt, dass eine positive Veränderung möglich ist. «Es gibt Wege, man muss sie einfach suchen.» Wenn wir am Wert und an der Würde eines jeden Menschen festhalten, muss man sich gerade um diese Menschen bemühen. «Wenn wir diese Leute verkümmern lassen, geht für die Gesellschaft viel verloren.»
Wie können wir mit Autisten umgehen?
«Generell sind wir es den Betroffenen schuldig, sie besser zu verstehen und ihnen gerechter zu werden.» Das beinhalte, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Der erste Schritt besteht darin, die Andersartigkeit anzuerkennen. «Wenn wir verstehen, dass diese Leute sozusagen ein anderes Betriebssystem im Kopf haben, ist ein wichtiger Schritt gemacht.»
«Wenn wir einen Autisten etwas fragen, kann es sein, dass er die Frage völlig anders versteht und dementsprechend eine falsche Antwort gibt. Trotzdem kommen wir nicht darum herum, Fragen zu stellen.» Merian erzählt von einem 19-Jährigen, der sagte, sich noch nie verstanden gefühlt zu haben. Es ist unmöglich, jemanden zu verstehen, wenn man die Unterschiede in der Kommunikation nicht begreift und sich dem Autisten anpassen kann. «Es braucht Übung, um Fragen richtig formulieren zu können. Da wir eine andere Wahrnehmung haben als Autisten, müssen wir uns immer an sie herantasten.»
Letztlich können sich Menschen im Umgang mit Autisten masslos überfordert fühlen. Dieser Überforderung kann mit Aneignung von Wissen begegnet werden. Autismus ist eine tiefgreifende Störung, die jeden Teil des Menschseins beeinträchtigt. Trotzdem ist es nicht richtig, von Behinderten zu sprechen. Sie sind genauso begabt oder auch nicht, wie jeder andere auch. Anders ist ihre Art zu denken, fühlen und handeln und zusätzlich können sie eine völlige andere Wahrnehmung auf allen Sinneskanälen haben. Wir müssen lernen, das alles besser zu verstehen. Noch immer gibt es nur wenige Angebote, um sich Autismus-Wissen anzueignen. Urs Merian verweist überzeugt auf die Angebote von Mirjam Schlesinger (Schlesinger Beratungen), die individuell angepasste Schulungen durchführt.
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Zur Website:
Internat Grosshaus – Aussenwohngruppe Aeschi
Schlesinger Beratungen
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet
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