Theologe Roland Mahler
Die Freiheit hat einen Preis
Die Coronapandemie fördert ans Licht, was unterschwellig schon lange beansprucht wird: Freiheit und Selbstbestimmung werden gegenüber dem Staat energisch verteidigt. Wie sich das erklären lässt, untersuchte Theologe und Psychotherapeut Roland Mahler.
Der promovierte Theologe und Psychotherapeut Roland Mahler hat das Phänomen in einem Fachartikel der Zeitschrift «Ausblick» der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik (ICP) scharfsinnig analysiert und erklärt. Er beleuchtet die Geistesgeschichte, die zur heutigen Betonung von Selbstbestimmung (Autonomie) und Freiheit geführt hat, die auch auf Kosten der Schwachen gehen kann. Und er skizziert eine christliche Sicht, wie damit umgegangen werden kann.
Die Rolle des Staates hinterfragt
Die Moderne hat, so Mahler, das Naturrecht über das Standesrecht gestellt und dieses überwunden. Daraus sei eine Sicht des Staates entstanden, in dem der individuelle Mensch ein kleines Stück an Souveränität aufgibt und sie an den Staat überträgt, der dadurch handlungsfähig wird. Ein Beispiel ist das Gewaltmonopol des Staates. Seine Handlungsbefugnisse werden durch Parlament und Volk festgelegt. Ausserordentliche Lagen führen dabei zu verfassungsmässigen Ausnahmebestimmungen, die gesetzlich festgelegt werden.
Mahler stellt nun fest: «Solange das Gemeinsame für alle Bürger zur Sicherung der Existenz unhinterfragt war, hat dieses Gesellschaftsmodell bestens funktioniert. Seit aber die Optimierung der individuellen Möglichkeiten ins Zentrum gerückt ist, also ab den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, und seit durch den unbegrenzten Zugang zum Universum der Informationen jeder seine eigene Wahrnehmung der Welt legitimieren kann, wird das bestehende Modell mehr und mehr ausgehöhlt.»Die Folgen davon sehen wir im Wochenrhythmus auf unseren Strassen, wo Menschen mit Berufung auf die Verfassung gegen die Ausnahmebestimmungen protestieren. Diese umfasst die Rechte, aber nur indirekt auch Pflichten der Bürger. Die Achtundsechziger-Revolte habe «zurecht ein Zeitalter der systematischen Ein- und Unterordnung beendet, eine Epoche der metaphysischen Überhöhung der Staats- und Gesellschaftsidee auf Kosten der Individuen.» Mahler bemerkt dazu: «Diesen Zeiten nachzutrauern ist obsolet.»
Ein Gleichgewicht finden
Inwiefern und wem soll sich der Mensch jetzt unterordnen, wenn es zum Wohl der anderen nötig ist? Wo liegen die Grenzen der Freiheit? Es gilt, so Mahler, ein Gleichgewicht zwischen individuellem und kollektivem Handeln zu finden – durch einen öffentlichen Diskurs. Dieser sei freilich unter den gegebenen Umständen der Pandemie schwierig. Der Theologe mit grossem sozialem Verständnis wirft daher die Frage auf: Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag? Dieser müsse auf das Gemeinsame aller Menschen fokussieren, ohne dass jemand zu etwas gezwungen oder genötigt werde.
Individualität und Gemeinsamkeit
Dazu müssten wir uns aber über gemeinsame Ziele und die gemeinsame Geschichte klar werden, die Gegenstand eines Wir sein können. Jeder sollte sich fragen: «Wo kann ich mich ins Gemeinsame einbringen?» Und das müsse aus der Freiheit kommen. Ein Beispiel kann die gemeinsame Arbeit sein, ein gemeinsames Projekt. Dabei darf die Persönlichkeit der Beteiligten durchaus eine Rolle spielen. Es geht für jeden um einen individuellen Prozess mit dem Ziel, das man gemeinsam – als Teamarbeit – etwas erreichen will. Exklusivere Formen sind zum Beispiel die Familienarbeit.
Bei jeder Beziehung stelle sich die Frage, was man gemeinsam hat und was jeder exklusiv hat. «Aufgrund der Nächstenliebe kann ich mich aber auch exklusiv für den Andern einsetzen und ihm zum Nächsten werden.»
Freiheit ist kein Selbstzweck
Damit kommt ein Aspekt ins Spiel, der zum Eigentlichen des christlichen Lebens gehört, aber auch der säkularen Gesellschaft kommuniziert werden muss: «Freiheit ist kein Selbstzweck und nicht das Ziel der menschlichen Entwicklung, sondern lediglich die Voraussetzung für ... die Hingabe an das Gemeinsame.»
Daher dürften die persönlichen Bedürfnisse nicht absolut durchgesetzt werden. Zwar gehöre das Verlangen nach Selbstbestimmung zu diesen Bedürfnissen der heutigen Menschen. Dennoch müsse sich jeder selbstbestimmende Mensch fragen: Wohin führt mich meine Selbstbestimmung – von mir und dem Mitmenschen weg oder zu mir selbst und zum bedürftigen Anderen?
Bereit, den Preis zu zahlen?
Der Theologe mit einem grossen Herzen für die Gesellschaft richtet daher einen Appell an alle: «Vor diesem Hintergrund ist es im Alltag – sei er durch eine Pandemie geprägt oder nicht – nicht primär das Institut des Staates und seiner Aufgaben, das zur Debatte steht, sondern die Frage, ob wir alle bereit sind, den Preis zu bezahlen, d.h. unsere Freiheit einzusetzen für das Gemeinsame, das uns zu etwas Grösserem und Vollkommenerem macht, als all das, was wir als blosse Individuen je zu sein vermöchten. Wenn wir das Gemeinsame und Verbindende anstreben, sind wir auf dem Weg zu mehr Individualität.» Mahler verweist auf die eingängige Formel von Martin Buber: «Das Ich und das Du entsteht am Wir», und Gott ist das endgültige Wir.
«Solidarität» einfordern ist o.k.
Eine solche Einstellung kann Menschen, die nicht nur sich selbst im Zentrum sehen, befähigen, auch Massnahmen des Staates zu akzeptieren, die für eine Zeit als schwierig empfunden werden. So hat Italien zum Beispiel angesichts des Schocks in der ersten Covid-Welle strenge Massnahmen akzeptiert, die dem Schutz aller dienen.
Der säkulare Begriff für Nächstenliebe lautet bekanntlich Solidarität. Und «solidarisches» Verhalten dürfe auch mutig eingefordert werden. Der Staat habe grundsätzlich die Option, sie einzufordern, weil er repräsentativ für alle Bürger, das Wir, stehe. «Das steht heute auf dem Prüfstand.» Eine offene Diskussion sei vielleicht in einer postendemischen Zeit möglich.
Zum Thema:
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Autor: Fritz Imhof / Roland Mahler
Quelle: Livenet
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