Paulus’ persönlichster Brief
Eine Geschichte von Streit und Versöhnung
Manche Beziehungen sind so stark gestört, dass es klar scheint: Das heilt nicht mehr. Einer der kürzesten Briefe des Neuen Testaments zeigt, dass das Gegenteil möglich ist. Pauls schreibt ihn an seinen Freund Philemon.
Wenn der Pastor im Gottesdienst sagt: «Schlagt bitte mit mir den Philemonbrief auf!», kann man sich relativ sicher auf eine gewisse Zeit der Unruhe einstellen. Wie hiess der Brief? Ist der auch in meiner Bibel? Und wenn ja, wo finde ich ihn? Aber wer den Text in der Länge einer ausführlichen Postkarte hinter dem Titusbrief entdeckt hat, findet einen der Schätze des Neuen Testaments: Paulus' vielleicht persönlichsten Brief, ein gesellschaftliches Drama der Antike, eine Geschichte von Streit und Versöhnung.
Worum geht's? Paulus sitzt gerade im Gefängnis. Er schreibt den Brief an Philemon, einen guten Freund und wohlhabenden Bürger von Kolossä. Darin bittet er ihn, seinen entflohenen Sklaven Onesimus wieder aufzunehmen, mehr noch, ihm zu vergeben und ihm in Zukunft als Freund und Bruder zu begegnen. Und um das zu unterstreichen, gibt er Onesimus gleich den Brief mit und schickt ihn damit zurück nach Hause.
Da ist was vorgefallen
Paulus verrät uns nicht, was genau geschehen ist. Braucht er auch nicht, denn sowohl der Briefträger als auch der Empfänger kennen die Geschichte. Uns als heutige Leser lässt er damit als Zaungäste einer Problemlösung zuschauen, ohne dass wir das eigentliche Problem kennen. Aber die Konstellation enthält einigen Sprengstoff: Philemon ist Christ. Für uns unvorstellbar, für damals völlig normal: Er ist der Besitzer mindestens eines Sklaven mit dem damals für einen Leibeigenen typischen Namen «Nützlicher», Onesimus. Dieser flieht. Wir wissen nicht, ob er in die Kasse gegriffen hat, die Arbeitsbedingungen zu schlimm fand oder etwas anderes auf dem Herzen hatte.
Und Onesimus, der selbst mit dem christlichen Glauben nichts am Hut hat, landet auf seiner Flucht ausgerechnet bei Paulus im Gefängnis, einem Freund seines Besitzers. Paulus beschreibt, was bei dieser Begegnung geschieht: «Ich bitte dich für mein Kind», weil er ihn im Gefängnis zum Glauben an Christus geführt hat (Vers 10). Was nun? Der Sklave des einen Freundes ist gerade beim anderen zum Glauben gekommen, aber dummerweise hat er sich vorher in die Illegalität begeben und steht auf jeder Fahndungsliste. Die verfahrene Situation klingt nach Polizei, Strafe und grösseren Problemen, aber Paulus geht einen ungewöhnlichen Weg.
Ein Mafia-Angebot
Der Apostel verhält sich hier wie ein echter Mafioso: Er macht Philemon ein Angebot, das dieser nicht ablehnen kann. Nach einem Lob für seinen Freund stellt er klar, dass der Sklave zum Glauben gekommen ist und damit aus einem «Unnützen» ein echter Onesimus, ein «Nützlicher» geworden ist (Vers 11). Dabei unterstellt er Philemon, dass dieser wahrscheinlich Onesimus gern an seiner Stelle bei ihm, Paulus, gelassen hätte, um ihm zu helfen, um ihn anschliessend zu bitten, ihn «nicht mehr als einen Sklaven, sondern, was besser ist als ein Sklave, als einen geliebten Bruder» (Vers 16) anzunehmen. Weil Paulus sich an dieser Stelle nicht offen gegen Sklaverei ausspricht, verstanden dies früher viele als Zustimmung dafür. Andererseits: Wer kann schon seinen Bruder besitzen? Ausserdem wird der Brief wahrscheinlich vor der ganzen Gemeinde vorgelesen, die sich bei Philemon im Haus trifft. Alle hören, was Paulus sagt: «Nimm ihn auf wie mich selbst. Wenn er dir aber Schaden zugefügt hat oder etwas schuldig ist, so stelle das mir in Rechnung.» (Verse 17-18) Er schliesst mit den Worten «ich weiss, dass du noch mehr tun wirst, als ich dir sage» (Vers 21). Wenn die beiden keine guten Freunde wären, wäre ein solcher Brief absolut manipulativ. Aber so nimmt Paulus nur vorweg, was Philemon seiner Meinung nach sowieso tun wird. Vielleicht hilft er ihm etwas auf die Sprünge. Denn wie sollte Philemon nach diesem Brief «seinem» Sklaven noch einen neuen Halsring umlegen?
Überraschende Vergebung
Können Sie sich vorstellen, was in Kolossä am Tag X los ist, als Onesimus mit dem Brief eintrifft? Jeder weiss, was passiert ist. Jeder hat gesehen, dass Onesimus wieder ins Haus von Philemon zurückgekommen ist. Und jeder hält die Luft an. Wetten werden abgeschlossen: Wird er getötet? Verliert er einen Finger? Verkauft Philemon seinen flüchtigen Sklaven? Der Bibeltext hört vorher auf, doch die Kirchengeschichte berichtet von der Versöhnung der beiden. Nach dem engagierten Brief von Paulus ist auch kaum eine andere Lösung vorstellbar, oder?
Und wenn Paulus solch einen Brief an uns in unseren Kirchen und Gemeinden geschrieben hätte? Also nicht nur im übertragenen Sinne, sondern wirklich? Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn private Besitz- und Unrechtsverhältnisse samt Streitereien dort zum Thema würden. Und stellen Sie sich weiter vor, was geschehen würde, wenn diejenigen Christen, die sich seit Jahr und Tag aus dem Weg gehen, sich schneiden, sich nicht riechen können, kein gutes Haar am anderen lassen, plötzlich miteinander ins Reine kommen. Unmöglich? Ja, aber genau dieses «Unmöglich» ist offensichtlich bei Onesimus und Philemon passiert. Ein frischgebackener Christ ist innerlich frei geworden und kann deshalb in sein problematisches Leben zurückkehren. Ein reifer Christ verzichtet auf sein gutes Recht, vergibt ihm, beendet die Abhängigkeit seines Sklaven und gewinnt einen Bruder. Kein Wunder, dass Philemon später der erste Bischof von Kolossä wird. Der Brief mag kurz sein, aber er enthält gesellschaftlichen Sprengstoff und mehr als das: Hier wird ein Stück weit Gottes Reich sichtbar, so wie Gott es sich gedacht hat.
Zum Thema:
In Gesellschaft und Familie: Die Kraft der Versöhnung
Wie «Nützli» uns nützt: Theaterstück zu Sklave Onesimus ermutigt uns heute
Prof. Johannes Reimer in Südafrika: «Unvergessliche Reise des Friedens und der Versöhnung»
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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