Ein Leben fast wie Hiob
Reto Salzmann: «Etwas hielt mich auf zu springen»
Für das Magazin «feg.ch» traf der Könizer Pastor Harry Pepelnar den 53-jährigen Reto Salzmann. Er ist ein Mann, der in seinem Leben unzählige Tiefschläge und Verluste durchstehen musste. Die jüngste Herausforderung: Long Covid.
«Ich würde mich nicht als Hiob bezeichnen», sagt mir Reto Salzmann im Vorgespräch. Aber während der 53 Jahre alte Mann mir seine Lebensgeschichte erzählt, ist mir die Geschichte von Hiob dauernd vor Augen. Ich frage mich, warum einige Menschen mit wenig Krisen durchs Leben gehen und andere scheinbar nie rauskommen. Aber darauf gibt es keine Antwort.
«Gott mutet uns wirklich viel zu, aber er hat uns auch immer durchgeholfen», meint er mit einem so positiven Ausdruck im Gesicht, dass ich nur staune. Dabei leidet er an Long Covid, ist seit über einem Jahr 100 Prozent krankgeschrieben (zurzeit im Aufbautraining) und hat einen monatelangen Klinikaufenthalt hinter sich. «In dieser Klinik habe ich mein Leben aufgearbeitet. Es war eine sehr gute und wichtige Zeit!»
Schwieriger Anfang
Reto und seine Geschwister haben alkoholabhängige Eltern. Als er vier Jahre alt ist und sein kleiner Bruder auf die Welt kommt, muss er auf ihn aufpassen. Weil die Mutter arbeiten geht, sperrt sie die Kinder in einem Zimmer ein, sich selbst überlassen. «Ich weiss relativ viel aus dieser frühen Lebensphase – sie war sehr intensiv. Ich konnte nicht Kind sein.»
Reto ist fünf Jahre alt, da steht ein Mann der Vormundschaftsbehörde vor der Tür. Die Kinder werden in Pflegefamilien gebracht. Er wird seine Eltern nie mehr sehen.
Pflegefamilie
Die Pflegefamilie heisst Salzmann und wohnt in Zufikon. Sie haben bereits vier Kinder und drei weitere werden noch aufgenommen. «Ich habe dort das erste Mal Wärme und Liebe
erlebt! Ich wüsste nicht, was aus mir geworden wäre ohne dieses Ehepaar!» Die Eltern Salzmann sind gläubige Menschen und gehen in eine Freikirche. Sie leben auf einem ehemaligen Bauernhof, und es gibt immer etwas zu tun. Reto lernt viel und bekommt eine gute christliche Prägung mit auf den Weg. Als er 16 Jahre alt ist, gibt er sein Leben Jesus.Jung geheiratet
Chauffeur war sein Traumberuf und den durfte er sich auch erfüllen. «Und, ich wollte schon immer früh heiraten, damit wir nach den Kindern wieder Freiraum haben!» Mit 21 Jahren heiratet er Petra, drei Jahre später sind zwei Söhne auf der Welt. Die Familie besucht die FEG Wettingen. Eine so schöne Geschichte, bis zu dem Moment, als Petra einen Muskelschwund an der Hand feststellt. Die schreckliche Diagnose: ALS. «Die Ärzte gaben ihr maximal fünf Jahre!» Alle sind überfordert, aber «meine Pflegeeltern waren mir wieder eine grosse Hilfe.» ALS ist eine Nervenkrankheit, in der sich alle Muskeln abbauen, was schlussendlich zum Tod führt. «Petra wird in der Endphase in ein Altersheim gebracht und meine zwei Jungs kamen zu Götti und Gotte.» 1999 stirbt Petra. «In dieser Phase stand ich zweimal auf einer Brücke, mit der Absicht zu springen, aber jemand hat mich zurückgehalten. Ich hatte ja noch zwei Söhne.»
Eine neue Frau und BESJ
Reto ist mit dem BESJ eng verbunden. Dort lernt er auch Monika kennen und die beiden finden zusammen. Zeitlich ist das sehr nah am Tod seiner ersten Frau. Einige können das nicht nachvollziehen. Aber es ist wichtig, denn eine neue Familie entsteht. Reto erhält eine Anstellung beim BESJ und der damalige Bundessekretär, Peter Blaser, wird eine grosse Hilfe. «Erst nach zwei Jahren kam die grosse Trauerphase. Es war alles so zu viel, die Krankheit, der Tod, die neue Heirat.» Viele Zweifel kommen auf, er ringt mit seinem Glauben. «Peter hat mir enorm geholfen!» Und heute weiss er, er hätte damals schon psychologische Hilfe gebraucht.
Puuh ... ich atme tief durch an diesem Punkt seiner Geschichte. So, jetzt ist aber genug. Reto beschreibt sich als gesellig, arbeitsam, diszipliniert und perfektionistisch. «Ich habe eine Überlebensstrategie entwickelt: Aus dem Negativen das Positive herauszupflücken und weiter zu gehen.»
Drei Kinder
Monika und Reto bekommen noch drei Kinder. Das erste Kind hat ein Geburtsgebrechen und kommt halbseitig gelähmt zur Welt. Der nächste Kraftakt steht bevor. «Ist es nicht langsam genug?» fragt Reto Gott. Zehn intensive Jahre stehen dem Ehepaar bevor, aber mit gutem Ausgang. Als wir das Gespräch führen, ist der Sohn in der RS. «Man sieht ihm nichts an, aber er hat schon noch Herausforderungen.»
Covid und Burnout
Reto arbeitet schon länger bei der Polizei in leitender Position. Die Corona-Krise kommt über die Welt. Und nach seiner Geschichte könnte ich jetzt fast wetten, dass es Reto erwischt. Und wie! «Schüttelfrost, Fieber, Geschmacksverlust und dann der Druck auf der Brust. Mein Körper hat sich einfach verabschiedet.» Nach zwei Wochen schliesst er mit seinem Leben ab. «Ich habe mich auf den Himmel gefreut!»
Aber es geht wieder aufwärts, hingegen die Kraft kommt nicht mehr. «Als ich wieder 30 Prozent anfing zu arbeiten, sass ich am Schreibtisch und wusste viele Dinge einfach nicht mehr, die ich jahrelang gemacht hatte.» Die Entzündungen im Körper deuten auf Long Covid, aber da ist noch etwas anderes. Da sind Angst und Panikattacken, die ihn überfallen. «Die ganze Pyramide meines Lebens ist zusammengebrochen.» Zum Glück kommt er in eine gute Klinik und kann sein Leben gründlich aufarbeiten. «Ich habe viel über mich und meine Muster gelernt. Es hat mir so gutgetan Lösungsansätze zu lernen. Aber ich konnte zehn Monate nicht mehr unter Menschen.»
Ich spüre im Gespräch, dass da ein grosser Rucksack gefallen ist. Und mir wird klar, wie wichtig professionelle Hilfe sein kann. «Die FEG Aarau hat uns sehr geholfen und zu uns gehalten!» Und noch einmal sagt er: «Dieses Jahr war sehr schwierig und trotzdem war es eine gute Zeit!»
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Autor: Harry Pepelnar
Quelle: FEG-Magazin
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