Befreiendes Klagen
«Die Seele muss reden dürfen»
Wenn das eigene Kind 30 Stunden nach der Geburt stirbt, bricht für die Eltern eine Welt zusammen. Melanie und Markus Giger erzählen, was ihnen im Trauerprozess geholfen und ihre Ehe zusammengehalten hat.
Alles lief gut. Melanie und Markus Giger aus Matzingen (TG) erlebten eine wunderbare Zeit. «Wir hatten zwei Kinder und gerade ein schönes Familienhaus bezogen.» Markus hatte seine theologische Ausbildung abgeschlossen und war soeben angefragt worden, die Geschäftsleitung beim Bibellesebund zu übernehmen. Als dann Melanie schwanger wurde und sie sich auf ihr drittes Kind freuten, schien die Welt perfekt.
Wenn sehr plötzlich dunkle Wolken aufziehen
Die Schwangerschaft verlief gut, der Tag der Geburt kam. Es war der 19. Februar 2012, ein Sonntag. Anfänglich verlief die Geburt problemlos, doch dann gab es einen Stillstand und ein Kaiserschnitt wurde gemacht. Und plötzlich gab es Komplikationen, es zeigten sich Probleme bei lebenswichtigen Organen und ein Ärzteteam kämpfte ums Überleben des soeben geborenen Micha. Ein paar Stunden später sagte ein Arzt, der Zustand des Babys sei wie ein Ei an einem seidenen Faden. Würde Gigers kleiner Junge überleben?
«Gott hat uns vorbereitet, Abschied zu nehmen»
Die Nacht verbrachte Melanie im Spital, Markus bei den älteren Kindern zu Hause. Es waren dunkle Stunden. Beide beteten zuerst um Gottes Eingreifen, kamen dann zur Ruhe und wurden von einem tiefen Friede erfüllt.Am folgenden Tag war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Micha sterben würde. «Als Familie nahmen wir Abschied von Micha und nach einem kurzen Leben von 30 Stunden war unser Kind gestorben.» So traumatisch dies war, sagt Melanie heute, im Blick auf die Stunden vor Michas Sterben: «Gott hat uns vorbereitet, Abschied zu nehmen.»
Die Trauerzeit war extrem heftig
«Als wir hörten, wie viele Ehen nach solchen Erlebnissen zerbrechen, wussten wir, dass eine belastende Zeit auf uns zukommt.» Die beiden entschieden, der Sorge um ihre Ehe eine hohe Priorität einzuräumen. «Nach dem ersten Schock entschieden wir, einander Gutes zu tun und uns keine Vorwürfe zu machen.» Markus berichtet, wie sie ganz bewusst am üblichen Eheabend festhielten. «Zeit für Zweisamkeit sollte nicht zu kurz kommen und auch die Sexualität nicht vernachlässigt werden.» Ein wichtiger Entscheid.
«Noch im Spital versprachen wir, unseren Umgang mit dem Verlustschmerz gegenseitig zu respektieren.» Es war ein bewusster Entscheid füreinander. Es ist normal, nach dem Verlust eines Kindes Phasen von Schmerz und Trauer zu durchleben. «Bei uns verliefen diese Phasen stark versetzt.» Melanie brauchte mehr Zeit als Markus. «Dies stellte unsere Ehe während der nächsten Jahre stark auf die Probe.»
Eine Freundin von Melanie beschrieb ihre Situation treffend: «Es ist, als würdet ihre beide auf offenem Meer ums Überleben kämpfen und gleichzeitig versuchen, euch nicht aus den Augen zu verlieren.» Und Melanie erkannte: «Der Verlust war für unsere Ehe etwas Trennendes. So entschieden wir, das Verbindende für unsere Beziehung zu suchen.» Die beiden begannen, Dinge zu tun, die ihre Paarbeziehung in früheren Jahren gestärkt hatten.
Klagen und Danken
Als Pflegefachfrau hatte Melanie ihren Abschluss auf der Palliativstation gemacht und war mit den Trauerphasen vertraut. «Ich wusste, dass es wichtig ist, die Seele reden zu lassen.» Sie wollte den Schmerz ausdrücken, in Worte kleiden und lautstarkes Klagen zulassen. Damit erhielt ihre Seele Luft zum Atmen. «Manchmal sagten Leute, ich dürfe nicht so mit Gott reden. Für mich waren klagende Gebete aber enorm wichtig.»Gleichzeitig entdeckte Melanie die Kraft des Dankens. Rein Gefühlsmässig war ihr kaum danach, sie merkte aber, wie wichtig es war, sich auf das Gute zu besinnen, um nicht in eine emotionale Abwärtsspirale zu kommen. «Dankbar zu sein, war für mich eine Entscheidung. Das kam nicht von selbst, sondern musste bewusst angeeignet werden.»
Glaubenskämpfe führen zu Tiefe
Die beiden waren über Jahre hinweg heftigen inneren Kämpfen ausgesetzt – gerade auch was ihren Glauben betraf. Für Melanie war es das Schlimmste, sich von Gott verlassen zu fühlen. Und auch Markus kannte das Gefühl aufkommender Resignation. «Jedes Mal kam aber wieder Hoffnung auf und der Weg mit Gott bestätigte sich.» Für Melanie war die Frage, ob Jesus es wert ist, ihm nachzufolgen, existenziell. «Irgendwie kam ich dazu, zu sagen: Gott, ich bleibe bei dir, ich gehe nicht weg!» Eine Aussage, die heute mehr Gewicht hat als früher.
Viel gelernt
«Auf unserem Weg haben wir viel gelernt», blickt Markus dankbar zurück. Ihre Ehe ist stärker geworden, genauso wie auch ihr Glaube an Gott. Gleichzeitig hatten sich die zahlreichen angeeigneten Überlebensstrategien zu einem grossen Schatz entwickelt. Im Frühling 2020 erwachte das Anliegen, ein Buch zu schreiben. «Wir spürten zunehmend ein Drängen, Menschen Trost und Hoffnung zu bringen», sagt Melanie und Markus ergänzt: «Wir wollten für Betroffene auch eine praktische Hilfestellung geben.» Oft werden sie gefragt, wie Trauernde begleitet werden können und so sehen Gigers die Zeit als gekommen, ihre Erlebnisse in einem Buch niederzuschreiben.
Ende Mai erscheint das Buch «Mitten im Sturm». Details unter www.mittenimsturm.ch
Zum Thema:
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet
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