Nacht im Pfuusbus
Ein Herz für den Rand der Gesellschaft
Viele Menschen können Weihnachten nicht in ihrer warmen Stube feiern. Sie haben keine. Livenet-Reporter Tobias Müller besuchte sie in Pfarrer Siebers Pfuusbus. Eine Reportage.
Das Abenteuer beginnt bereits im Tram. Ich wollte im Pfuusbus nicht auffallen, darum liess ich die Lackschuhe und das adrette Hemd zu Hause. Stattdessen sitze ich mit ärmelloser Trainerjacke, zerrissenen Hosen und einer tief ins Gesicht gezogenen Kappe da. Meine schmutzigen Schuhe schätzt man älter als sie in Wahrheit sind. Mich auch. Bei einer Haltestelle steigt eine Frau ein. Ihre gefüllten Tragtaschen und ihr matt schimmerndes Make-up verraten; sie ist nicht auf dem Weg zum Pfuusbus. Die Dame will sich auf den freien Stuhl neben mir setzen. Doch dann erblickt sie mich und entscheidet anders. Lieber fällt sie bei jeder Kurve wegen ihren hohen Absätzen und den schweren Säcken fast zu Boden, als neben einen Randständigen zu sitzen.In Gedanken werfe ich Steine auf sie. Sogleich erinnere ich mich aber an ähnliche Situationen. Nur war ich da jeweils in der Rolle dieser Dame. Minuten später funkeln mir die Weihnachtssterne vom Pfuusbus entgegen. Ich laufe zum Eingang und betrete das Vorzelt. Der Duft von Poulet streicht mir in die Nase. Gemischt mit der Ausdünstung von zwei Hunden und herumstehenden Schuhen. Rote Kugeln glänzen am kräftig verzierten Tannenbaum, ein Korb voller Guetzli lädt zum Knabbern ein. Hastig verzehre ich daraufhin das Poulet und den Rüeblisalat. Vis-à-vis von mir sitzt ein Mann mit schönen langen Haaren. Er könnte durchaus als Schauspieler durchgehen. Aber statt in Hollywood wohnt er im Pfuusbus. Wir nennen ihn Antonio. Er und seine gut beleibte Freundin werden in den kommenden Stunden noch eine Rolle spielen. Allerdings nicht in einem Film.
Bösewicht: «Ich war kurz im Himmel»
Der Betreuer nimmt mir den leeren Teller ab, ich suche mir eine freie Matratze. Erstmals abgelegen, lausche ich dem Gespräch zu, das sich am Tisch ergeben hat. «Wie geht es Dir?», fragt Antonios Partnerin einen älteren Mann mit grauer Kappe. «Super! Die ersten 100 Jahre im Leben sollte es gut gehen, danach wird es schwieriger.» Lautes Lachen dröhnt durch das Vorzelt. Ein Mann kommt hinein. Auch er könnte Schauspieler sein. Allerdings wäre er nur als Bösewicht geeignet. «Dich gibt es auch noch?», wird er von einem 40-Jährigen mit braunen Kruseln im Haupt- und Barthaar gefragt. «Ich war kurz im Himmel. Wollte mal schauen, wie es dort so ist», antwortet der vermeintliche Bösewicht. Wieder Gelächter. Dann wird es gespenstig still. So ruhig, wie die ganze Nacht nicht mehr. «Wir finden einfach keine Wohnung», bricht Antonios Freundin das Schweigen. Die Tischgefährten starren in ihre Teller.
Antonio starrt zu mir und bemerkt, dass ich neben ihm Stellung bezogen habe. Sofort setzt er sich auf seine Matratze. «Wenn jemand etwas stehlen will, machst du ihn kalt!», flüstert er dem grösseren Hund ins Ohr. Ich habe verstanden. Wieder öffnet sich der Eingang, graue Haare sind zu sehen. Hinter dem riesigen Vollbart und langem Haupthaar versteckt sich ein 80-jähriger Mann. «Hier stinkts nach toten Tieren!», gibt er zur Begrüssung von sich. Ich schaue zugleich zu den Hunden. Sie gucken mich noch immer an. Ah, vielleicht meint er die toten Hühner im Backofen. Ich rieche ohnehin nichts mehr, meine Nase gewöhnt sich schnell an Gerüche. Ich schlafe ein. Es ist kurz nach Mitternacht, als ich wieder aufwache. Ein Neuankömmling hat sich ins Zelt geschlichen und einen Gast aus seinem Bett gedrängt. Jetzt ist eine starke Leitungsperson gefragt. Der Moment, an dem Daniela ins Spiel kommt.
Etwa 30 Personen nächtigen im Pfuusbus
«Hüttenwartin» Daniela agierte früher bei einem grossen Technologiekonzern als Managerin. Dann entschied sie sich für die soziale Richtung. «Diese Arbeit gibt mir mehr», betont sie. «Es ist richtig und wichtig, hier zu sein.» Daniela beruhigt die Situation. Ich will weiterschlafen, aber jetzt wird Antonio von einen Hustenanfall geschüttelt. Ich sitze erschreckt auf. Der neben mir liegende Gast findet es lustig und kichert laut. Plötzlich wird mir kalt. Kein Wunder, jemand hat die Heizung abgestellt. Zum ersten Mal melde ich mich zu Wort: «Stell bitte die Heizung wieder an!», der Angesprochene flucht, aber gehorcht. Antonio hustet noch immer.
Aus dem Bus schimmert ein Lichtstrahl. Ich sehe Daniela, wie sie am Tisch sitzt und einen Kaffee trinkt. Ich geselle mich zu ihr, kann ja ohnehin nicht schlafen. «Ich stosse an meine Grenzen, wenn einer ein Messer zückt. Oder wenn ich jemanden reanimieren muss. Aber mit Angst darf man hier nicht arbeiten.» Sie nimmt einen Schluck. Etwa 30 Personen schlafen Nacht für Nacht im Pfuusbus. Daniela ist meist vor Ort. «Gewisse ehemalige Freunde von mir wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, seit ich hier arbeite. Obwohl jeder weiss, dass es auch in der Schweiz Armut gibt, möchten viele nicht damit konfrontiert werden.»
Pfarrer Sieber kommt an Heilig Abend dazu
Daniela erzählt vom Programm an Heilig Abend. «Pfarrer Sieber wird vorbeikommen und mit uns einen Gottesdienst feiern.» Ich lege mich wieder aufs Ohr. Antonio hustet nicht mehr, die Heizung läuft. Ich bleibe dennoch lange wach und denke nach. Diese Obdachlosen leben mitten unter uns und doch in einer anderen Welt. Gott sei Dank gibt es Menschen, die nicht wie ich einfach stehenbleiben im Tram, wenn nur noch neben einem sogenannten «Penner» Platz ist. Sondern Menschen, die sich Randständigen annehmen und gar ihre Weihnachten mit ihnen feiern. Ich bin beeindruckt und berührt.
Autor: Tobias Müller
Quelle: Livenet
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