Anna
Behindert – und trotzdem voller Lebensfreude
Als Aurelia und Hansueli Gujer sich vor 20 Jahren das Ja-Wort gaben, war ihnen klar: Sie würden nie leibliche Kinder haben können. Doch der Wunsch nach einem Adoptivkind wuchs. Nach vierjähriger aufreibender Suche mit schier endlosen Hindernissen wurde ihnen Anna aus Rumänien vorgestellt. Ein vierjähriges Roma-Mädchen, ein Energiebündel, das aber als schwer erziehbar galt und ihre Umgebung mit kritischem Blick musterte. Nach reiflichem Überlegen und Beten entschieden sich die Gujers, Anna aufzunehmen.
„Sie war laut und wild, forderte viel Aufmerksamkeit, aber ich spürte dahinter ihre Suche nach Liebe,“ meint Aurelia. Anna erobert die Herzen ihrer Adoptiveltern im Sturm. Aurelia, der gelernten Kindergärtnerin, gelingt es mit Einfühlungsvermögen und unerschütterlicher Liebe, Annas Vertrauen zu gewinnen. Nach einigen Monaten weichen Angst und Misstrauen aus Annas Augen. „Ihr Blick wurde sanfter und liebevoller,“ erinnert sich Aurelia.
Verdächtige Stille
Am 14. Oktober 1992 am späteren Nachmittag gerät das hoffnungsvolle Familienleben aus den Fugen. Anna planscht in der Badewanne, Aurelia telefoniert mit ihrer Schwester, mit einem Ohr hört sie auf die Geräusche aus dem Badezimmer. Plötzlich ist es verdächtig still. Aurelia nimmt das verkabelte Telefon mit und schaut ins Badezimmer. Ihr Herz bleibt beinahe stehen. Anna liegt reglos in der Badewanne mit dem Kopf unter Wasser. Aurelia schreit ins Telefon: „Anna ist ertrunken.“ Ihre Schwester ist Hebamme und behält einen klaren Kopf. Am Telefon gibt sie Aurelia gezielte Anweisungen, alarmiert die Ambulanz. Aurelia ist verzweifelt, fleht zu Gott: „Lass Anna nicht sterben!“
Anna lebt!
Anna stirbt nicht. Sie hat wegen Sauerstoffmangels jedoch viele Körper- und Hirnfunktionen verloren, auch ihre Sprache. Sie muss wie ein Baby wochenlang auf der Intensivstation des Zürcher Kinderspitals gepflegt werden. Aurelia leidet mit, klagt sich selbst an, bis die Ärzte herausfinden, dass die Vierjährige unter Epilepsie leidet und deshalb in der Badewanne das Bewusstsein verloren hatte. Als Anna endlich aus dem Spital nach Hause entlassen wird, leidet sie unter Schmerzen, braucht Windeln, nimmt kaum etwas wahr. Das einst vitale Mädchen ist völlig apathisch. Die Pflege fordert Aurelia das Äusserste ab, dennoch ist sie entschlossen, Anna nie in ein Pflegeheim oder in eine Rehabilitationsklinik abzuschieben.
Gott, warum?
Der Schmerz um ihre nun behinderte Tochter bringen Aurelia und Hansueli zum Beten. Fragen über Fragen bewegen sie: Warum hat Gott das zugelassen, wird Anna geheilt werden, wie sieht ihre Zukunft aus? Doch vorerst finden sie keine Antworten. Gujers suchen das Gespräch mit Fachleuten. Wenn sie von den Ärzten Antworten bekommen, sind diese meist ernüchternd. Annas Zukunft sieht düster aus.
Aurelia ist oft verzweifelt und niedergeschlagen. Ihr Bild vom sanftmütigen Gott, der all ihre Wünsche erfüllt, gerät ins Wanken. „Gott liess sich trotz all unserer Anstrengungen nicht weich beten“ resümiert Aurelia. Ein Zitat des berühmten China-Missionars Hudson Taylor hilft ihr: „Es ist wichtiger, zu lernen, was uns Gott durch die Not zeigen will, als aus ihr herauszukommen.“
Hoffnungsvolle Momente
Unerwartet geschehen für die Gujers kleine Wunder. Annas Körper erholt sich nach und nach. An Weihnachten 1992 macht sie erste Schritte und ihre Sinne werden zusehens schärfer. Viele kleine Fortschritte sind öfters Grund zum Feiern. Doch die Tage werden zunehmend anstrengender. Anna legt körperlich rasant zu, bleibt mental jedoch völlig unberechenbar, so dass ihre Betreuung im Haus oder im Freien jederzeit volle Aufmerksamkeit fordert – und das über Jahre.
Der Stress der Eltern schlägt oft in Frustration und Verzweiflung um, bis Anna selbstständiger und unabhängiger wird. Vorurteile und Unverständnis selbst von Ärzten und Pflegepersonal machen den Eltern manches Mal arg zu schaffen. Doch dann gibt es auch immer wieder hoffnungsvolle Momente, wo sie von andern ermutigt werden, dass sie nicht alleine sind.
Wunder heute
Eine Erkenntnis hilft Aurelia entscheidend. „Ich begann zu verstehen, Gott traut uns diese Aufgabe zu, er vertraut uns, dass wir die Herausforderungen meistern würden. Ich wurde richtig stolz auf meine Tochter, entdeckte immer mehr von ihrem inneren Reichtum.“ Dank unermüdlicher Förderung ist aus Anna eine begeisterungsfähige und vielseitig interessierte Persönlichkeit geworden, die sich langsam von zu Hause ablöst.
Die zwanzigjährige Anna hat ihren Platz in einem Werkheim gefunden und ist manchmal noch an den Wochenenden zu Hause. Ihre grossen schwarzbraunen Augen sprechen heute eine deutliche Sprache: Sie weiss sich geliebt von Gott und ihren Eltern. Durch ihr fröhliches, strahlendes Wesen gewinnt sie die Herzen der Menschen im Augenblick. Ihr offene Art und ihre Lebensfreude sind ansteckend. Mittels Blickkontakten, Zeichensprache und Gesten nimmt sie rege am Leben teil und lässt andere an ihrer Welt teilhaben. Und für alle Fälle ist sie mit einem Sprachcomputer gerüstet. Annas liebevolles, natürliches und kreatives Wesen ist ein wunderbares Reden Gottes: Es gibt heute noch Wunder, die Liebe findet einen Weg.
Buchtipp:
Anna, das Mädchen, das mit den Augen spricht. Aurelia Gujer mit Ruth Bai-Pfeifer. 288 Seiten,
Brunnen Verlag Basel,
Best. Nr. 111.423
ISBN 987-3-7655-1423-4
Zu Bestellen bei: Glaube & Behinderung, c/o Ruth Bai-Pfeifer, Mattenstrasse 74m CH-8330 Pfäffikon ZH oder via Email: info@gub.ch www.gub.ch , Tel. 044 950 64 58
Autor: Willy Seelaus
Quelle: Livenet.ch
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