Depression

Nach vier Suizidversuchen das Leben neu entdeckt

Acht Jahre lang war Anette gefangen in ihren Depressionen. Psychosomatische Schmerzen durchdrangen den ganzen Körper. Irgendwann war ihr alles zuviel.

Sie schluckte Tabletten, schnitt sich die Adern auf, legte sich in die Badewanne – zusammen mit dem laufenden Haartrockner. Vier Suizide in einem Monat. Jedes Mal wurde sie gerettet.

Der einzige Ausweg

Frühjahr 1994. Anette ist an einem Tiefpunkt. Vier Mal hintereinander versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Durch die Depression hat sie die Kontrolle über ihre Gedanken verloren. Sie sieht nur einen Ausweg: „Fort! Weg! Sterben!“ Ihr Mann Erich bringt sie gegen ihren Willen in die psychiatrische Klinik. Die Medikamente greifen schnell. Jeden Tag kommt Erich zu Besuch. Sie laufen stundenlang und besprechen, was ihnen die Ärzte gesagt und geraten haben. Anette wird wieder fröhlich. Sie singt, plaudert mit den Mitpatienten, schöpft wieder Hoffnung und glaubt an Gottes heilende Kraft.

Den Tag überstehen

Doch daheim bricht die Kraft immer wieder ein. In sieben Jahren muss Anette sechs Mal stationär behandelt werden. Sie findet wenig Mut zum Glauben, hat keine Kraft, in der Bibel zu lesen und schlägt sich mehr schlecht als recht durch den Alltag. Schlafen bis 11.30 Uhr, kochen, die nötigsten Dinge erledigen, Entspannung suchen, damit sie den Tag übersteht. Eigentlich ist es nur eine Stelle aus der Bibel, an das sich Anette in dieser Zeit klammert: „Du sollst leben und die Worte des Herrn verkündigen.“ – Sie begeht keinen Suizidversuch mehr, obwohl sie immer wieder an den äussersten Rand der Verzweiflung kommt. Sie wiegt neunzig Kilogramm und will sich nicht mehr im Spiegel betrachten. Immer wieder sagt ihr Erich: „Ich liebe dich auch so. Ich liebe dich, weil du meine Frau bist. Ich liebe dich, weil du du bist!“ Er ist ihr bester Seelsorger. Er gibt sie nicht auf, auch wenn er und die Kinder unter der Situation sehr leiden.

Einschneidende Umstellung

In der Vergangenheit leitete Anette zusammen mit ihrem Mann eine christliche Freikirche. Sie liebte die Gemeinschaft mehr als die Ruhe. „Ich klammerte mich regelrecht an Menschen. Sie gaben mir Sicherheit und das Gefühl, etwas Nützliches zu tun.“ Doch 1994 brach alles zusammen. In der Kirche gab es starke Meinungsverschiedenheiten. Es drohte eine Spaltung. Um dies zu verhindern, entschied sich Erich für einen Wechsel an einen anderen Ort und in eine andere Gemeinde. Alle vertrauten Beziehungen brachen ab. Anette und die Kinder litten sehr darunter. An dem neuen Ort fühlten sie sich nicht wirklich angenommen.

Vier Mal gerettet

Die Umstellung wird zum Alptraum. Anettes Selbstwert ist zutiefst in Frage gestellt. Schmerzen quälen sie Tag und Nacht. Sie kann nicht schlafen. Sie hat kein Gefühl im rechten Bein, muss liegen, die Beine hoch lagern. Die Computertomografie bringt kein eindeutiges Ergebnis. Vielleicht Bandscheibenvorfall. Medikamente lindern, heilen aber nicht. Anette glaubt fest an Wunder. Sie weiss, dass Gott heilen kann und heilen will. Doch sie wird nicht gesund. Die Erschöpfung nimmt ihr die letzte Kraft. Es folgen die vier erwähnten Suizidversuche. Sie fährt mit dem Auto weg, um die Tabletten zu schlucken. Achtzig! Doch Anette schläft nicht für immer ein. Sie fährt zurück zu Erich. Der Magen wird ausgepumpt. Anette „muss“ weiterleben. Beim vierten Mal will sie auf Nummer sicher gehen. Sie legt sich ins Bad. Der Föhn wird’s regeln, denkt sie. Aber der versagt auch. Eine Bekannte, die bei der Hausreinigung hilft, entdeckt, dass sich Anette ins Bad eingeschlossen hat. Die herbeigeeilten Helfer suchen einen Schlüssel. Anette wird zum vierten Mal gerettet und in die Klinik gebracht.

Sicherheit, die stark macht

Heute ist Anette gesund. Es dauerte acht Jahre. Immer wieder kehrten die Depressionen und Schmerzen zurück. Erst 2002, in den Ferien auf Malta, erstarkt Anettes Glaube. Sie glaubt voller Zuversicht, dass sie gesund wird. Anette schluckt, getragen von dieser Glaubenskraft, keine Medikamente mehr.

Entzugserscheinungen bleiben aus. Das Messgerät zeigt wieder normale Blutdruckwerte. Anettes Leben normalisiert sich.

Die Sicherheit, die sie auf Malta entdeckt hat, macht sie heute stark. Sie weiss zutiefst in ihrem Inneren, dass Gott immer stärker ist. Doch eines Nachts wacht Anette auf: Die Schmerzen sind zurück! – Sie hatte geträumt. Es war ein langer Traum. Am Ende verlor sie Erich und war allein. Plötzlich erkennt Anette ihre Blockade. Sie spricht mit Erich und merkt, dass sie sich ihr Leben lang an ihn und andere Menschen gebunden hat. Allein fühlte sie sich immer unsicher.

Sieg über die Flucht

Heute hat Anette ein gesundes Selbstvertrauen gefunden. Auch Gott ist wieder ganz neu in ihr Leben eingekehrt. Vertrauensvoller. Sicherer. Sie sagt Gott im Gebet, was sie glaubt, worauf sie vertraut. Sie hält an den Zusagen und an der Hoffnung fest. Die Erlebnisse haben sie feinfühliger gemacht. Feinfühliger für Menschen, aber auch feinfühliger für Gottes Reden.

Erich hat in der Zwischenzeit auch die äusseren Umstände erneuert. Für seine Frau hat er das Haus liebevoll umgebaut. Im Bad, in dem Anette einst sterben wollte, erinnert nichts mehr an früher. „Zuerst wollten wir das Haus verkaufen und so die Vergangenheit beenden. Aber nun haben wir alles umgebaut.“ In Anettes Stimme schwingt ein leiser Stolz. Vielleicht ist es der Stolz des Sieges über die Flucht.


Autor: Hans Ueli Beereuter
Quelle: Neues Leben

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