Marcel Müller
Vom Schicksal überfallen
Marcel Müllers Schicksal war ein verhängnisvoller Sturz mit dem Motorrad. Er hatte es gerade erst mit viel Liebe revidiert und freute sich an den Fahrten mit seinem eigenen Töff. Der Unfallhergang ist bis heute nicht wirklich geklärt. War es mangelnde Routine? War es ein Defekt am Motorrad? Marcel kann sich nicht erinnern. Ihm bleibt nichts anderes, als sein Schicksal zu akzeptieren und mit den neuen Bedingungen sein Leben zu gestalten. Er verlor beim Sturz sein linkes Bein.
Vom Warum? zum Wozu?
Wie Marcel Müller ohne sein Bein leben lernt
Bern. Ich liege im Inselspital. Eine Krankenschwester erzählt etwas von einem Töffunfall. Ich sei schwer gestürzt. Richtig aufgewacht bin ich noch nicht. Ich schlafe weiter, wache aber immer wieder für kurze Zeit auf. Ich hätte mein Bein beim Sturz verloren, weggerissen worden sei es, sagt mir ein Arzt. Sie hätten es nicht mehr annähen können. Ich begreife nicht, was wirklich mit mir geschah. Irgendwann, etwa vier Tage später, klage ich über ein Jucken am linken Fuss. "Marcel, du hast keinen linken Fuss mehr!" Ich beginne zu verstehen. Tränen stürzen über mein Gesicht.
Marcel beginnt zu verstehen
Ich weine nicht wegen der Schmerzen, sondern weil ich anfange zu begreifen, was geschehen ist. Mein Bein ist weg. Welche Auswirkungen werden auf mich zu kommen? Werde ich wieder gehen können? Kann ich jetzt nie mehr Motorrad fahren? Nie mehr Schifahren? Was ist mit meinem Beruf? Bald hätte ich die Lehre als Motorradmechaniker beendet...
Ich suche nach Antworten, will verstehen, was geschehen ist. Ist alles meine Schuld? Habe ich bei der Totalrevision meines Töffs einen Fehler gemacht? Ich kann es mir nicht erklären, aber gründlich untersuchen will ich mein Motorrad bestimmt. Ich muss herausfinden, wie es zum Unfall kam. Erinnern kann ich mich nicht. Ich war jedenfalls auf dem Heimweg von Frutigen nach Adelboden und bald daheim. Mit dem Rega-Heli haben sie mich dann nach Bern gebracht. Mein Vater ist mitgeflogen. Eine frühere Notfallschwester hatte mir auf der Unfallstelle das Bein abgebunden, damit ich nicht verblutet bin. Ihre Gegenwart war mein Glück im Unglück!
Ich weine immer wieder. In meinem Schmerz beginne ich mit Gott zu reden. Ich klage ihm alles. Dabei werde ich zunehmend dankbar. Der Unfall hätte mein frühes Ende sein können. Der Aufprall auf den Eisenzaun war heftig, sehr heftig. Durch das Gebet werde ich ruhiger. Ich spüre, dass Gott gegenwärtig ist. Ich glaube schon lange an Gott. Jesus habe ich vor einigen Jahren als meinen Herrn und Erlöser in mein Leben aufgenommen. Ich weiss auch, dass Gott mir durch den Glauben ein neues Leben geschenkt hat. Ewiges Leben! Aber in den Monaten vor dem Unfall hat mein Gottvertrauen nachgelassen. Anderes ist immer wichtiger geworten.
Irdische Dinge liegen uns näher als himmlische. Mein Motorrad ist mir besonders wichtig gewesen. Ich habe lange daran gearbeitet. Sogar einen Motorradclub haben wir gegründet. Das Leben hat richtig Spass gemacht. Doch dann ist der Himmel plötzlich in meine Nähe gerückt. Und damit die Frage: Was ist Leben? Was Spass?
Zukunft oder Gegenwart
In der Rehaklinik Bellikon soll ich wieder gehen lernen. Doch die Heilung der Wunde am Bein verzögert sich. Eine zweite Operation wird nötig. Ich kann noch keine Prothese tragen. Diese würde die Wundheilung noch mehr verlangsamen. An den Stöcken bin ich aber schon ganz schön mobil. Ich mache einen Spaziergang auf dem Klinikareal. Es macht richtig Spass an der frischen Luft. Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen viel über meinen Unfall nachgedacht. Die Warumfrage bringt mich nicht weiter. Mein Bein ist weg. Sie haben es in Bern verbrannt. Mir bleiben nur die Erinnerungen und die Röntgenbilder. Damit muss ich zurecht kommen. Es bleibt mir keine Wahl.
In Bellikon lese ich viel in der Bibel. Sie gibt mir Kraft. Ich merke, wie ich im Gegensatz zu einigen anderen Patienten erstaunlich gut mit meiner Situation zurecht komme. Schrittweise geht es aufwärts. Auch meine Familie unterstützt mich kräftig. Sie besuchen mich, machen mir Mut und stehen im Gebet hinter mir. Tränen überfallen mich dennoch manchmal. Besonders, wenn mir bewusst wird, was sich alles ändern wird in meinem Leben.
Schwungvoll hüpfe ich mit meinen Stöcken vorwärts über eine Holzbrücke. Ich rutsche aus. Mein Beinstummel schlägt hart auf dem Brückenboden auf. Schmerzen durchdringen meinen ganzen Körper. Die Wunde ist wieder aufgeplatzt. Sie will nicht heilen. Die Frage nach einer dritten Operation liegt im Raum. Ich weiss nicht, was richtig ist. Da lese ich in der Bibel die Worte: "Verlass dich nicht auf Menschen, sondern verlass dich ganz auf Gott."* Ich werde ruhig, sage den Ärzten, dass ich lieber nicht operiert werden wolle. Die Wunde heilt. Ohne Operation wird es von Tag zu Tag besser. Ich staune über Gottes Hilfe und gewinne neuen Mut, Gott ganz zu vertrauen.
Mein Betreuer in Bellikon unterrichtet an der Schule für Krankenschwestern. Ich darf mit in die Klassen, um über mein Erleben zu berichten. Die Schwestern sollen lernen, welche Auswirkungen Amputationen auf den Patienten haben. Ich erzähle, wie es mir geht. Auch, wie ich immer mehr lerne, in die Zukunft zu investieren. Zurückschauen und sich bemitleiden hilft niemandem weiter. Ich kann ihnen erzählen, dass für mich die Warumfrage sehr in den Hintergrund gerückt ist. Selbst mein Motorrad will ich nicht mehr untersuchen. Es würde mich keinen Schritt weiter bringen. Im Gegenteil, ich würde mich bestimmt anklagen, wenn ich tatsächlich einen Fehler entdeckte. Und dies würde mich nur blockieren.
Gott will unser ganzes Vertrauen. Ich glaube heute, dass Gott meinen Sturz zugelassen hat, damit ich ihm neu vertrauen lerne. Ich bin ihm in den vergangenen Monaten näher gekommen als je zuvor. Ich habe gelernt, ihm wirklich alles zu sagen, was mich bedrückt. Er ist ein ausgezeichneter Gesprächspartner. Mir ist auch bewusst geworden, dass Gott unsern Glauben vermehren will. Wir sollen nicht still stehen oder uns gar von Gott weg bewegen. Gott will in unserem Leben an erster Stelle sein. Dann werden uns alle Ereignisse und Situationen vorwärts bringen. Auch sehr schwere. * nach Psalm 118,8
Was wir so nie planen könnten
Im Oktober hätte ich eigentlich schon lange wieder entlassen sein sollen. Aber die Komplikationen haben den Abschluss der Rehabilitation verzögert. Zu meinem Glück, muss ich heute sagen. Denn Schwester Melanie arbeitet erst seit kurzem in Bellikon. Sie hat eine sehr fröhliche Ausstrahlung. Wir verstehen uns sofort gut. Ich beobachte sie gerne, wenn sie ihre Arbeit im Zimmer verrichtet. Ist es ihr Glaube, der sich in ihrem Gesicht spiegelt? Glaubt auch sie an einen lebendigen Gott? Ich wage nicht, sie zu fragen. Schliesslich bin ich Patient und sie die Pflegende. Doch eines Tages fragt mich Schwester Melanie nach meinem Glauben. Sie hat mich während ihrer Arbeit beobachtet. Melanie erzählt mir, wie auch ihr der Glaube an Jesus Christus wichtig sei und ihr Freude und Kraft für den Alltag als Krankenschwester gebe.Ich bin überglücklich. Denn, ehrlich gesagt, habe ich mich bereits ein wenig in sie verliebt. Jetzt, wo wir ganz offen über unseren Glauben reden können, ist es, wie wenn sich eine Barriere öffnen würde. Wir spüren, wie gegenseitige Liebe entsteht. Manchmal denke ich, alles sei ein Märchen. Was wäre gewesen, wenn meine Wunde schneller verheilt wäre? Was, wenn ich keinen Unfall gehabt hätte?
Man kann nicht alles erklären, was im Leben geschieht. Auch nicht alles verstehen! Unsere Freundschaft wächst von Tag zu Tag. Ich werde meine Lehre als Motorradmechaniker beenden und bin nun auf der Suche nach einer Lehrstelle als Maschinenkonstrukteur. "God bless you!" hat mir Melanie auf meine Beinprothese geschrieben. Das ist mein tiefer Wunsch. Ich möchte von Gott gesegnet leben. Vielleicht sogar einmal eine Bibelschule besuchen, damit ich meinen Glauben noch mehr vertiefen kann.
Ich habe mich in den vergangenen Monaten besser kennen gelernt. Ich erlebte Emotionen, die ich so nicht kannte. Ich habe eine robuste Natur und bin mich gewöhnt, nicht so schnell zu resignieren. Doch wenn man vor die Tatsache gestellt wird, dass ein Bein weg ist, gibt es nicht mehr viel zu kämpfen. Da wird man von der Ohnmacht überfallen. Auch jetzt, wenn ich alles erzähle, spüre ich die Tiefe meiner Emotionen. Ich muss oft weinen. Aber das ist gut. Die Tränen sind ein Kanal für Gefühle, die man nicht mit dem Verstand bewältigen kann. Ich habe gelernt, auf mich selber zu hören. Ich weiss nun besser, wo meine körperlichen und seelischen Grenzen sind. Mit der Beinprothese werden mir auch in Zukunft Grenzen gesetzt, die ich annehmen muss. Das wird nicht immer einfach sein.
Auch für die Menschen um mich herum ist es nicht immer einfach. Als ich nach dem Spital erstmals wieder mit meinen Eltern den Gottesdienst besuchte, waren einige Leute beim Anblick meines Beinstummels zutiefst bewegt. Ich hatte mein Bein auf den Schoss meiner Mutter gelegt, weil ich es möglichst hoch lagern sollte. Das sah dann schon etwas makaber aus.
Aus all meinen Erfahrungen seit dem Unfall habe ich gelernt, besser auf Gott zu hören. Ich vertraue ihm und will in meinen Entscheidungen sicher sein. Deshalb bitte ich Gott um seine Führung für mein ganzes Leben. Gott kann aus meinem Unfall etwas Gutes machen. Er hat ihn zugelassen, damit ich wieder näher zu ihm fand. Was nun daraus wird, weiss ich noch nicht. Ich möchte jedenfalls die Zukunft unter seiner Führung gestalten. Schritt für Schritt, so wie ich mit meiner Prothese gehen lernen muss.
Zugehört und aufgeschrieben von Hans Ueli Beereuter
Was geht in einem Menschen vor, der so plötzlich vom Schicksal überfallen wird?
1. Irritation: Der Betroffene kann nicht wirklich fassen, wie ihm geschieht. Er nimmt kaum wahr, was rund um ihn abläuft und weiss später nicht mehr, wie er selber gehandelt hat.
2. Rebellion: Der Betroffene hadert. Er will nicht akzeptieren, was geschehen ist.
3. Resignation: Der Auflehnung folgt die Einsicht, dass sich das Rad nicht mehr zurückdrehen lässt. Depressionen sind nicht selten.
4. Reorganisation: Nun kann und muss das Leben wieder neu gestaltet werden. Die neuen Voraussetzungen bestimmen die Zukunft.
5. Integration: Das Schicksal wird als Teil der eigenen Geschichte wahrgenommen. Was da geschehen ist, gehört zu meinem Leben. Ich mache das Beste daraus. (Kurzformel: IRRRI)
Autor: Hans Ueli Beereuter
Quelle: Bordzeitung - Texte zum Leben
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