Den Mörder adoptiert
Eine krasse Geschichte übers Verzeihen nach einer Vergewaltigung
Ein junges taiwanesisches Mädchen wurde vergewaltigt und umgebracht. Es war eines jener zutiefst aufwühlenden und unbegreiflichen Geschehnisse, die Eltern und Freunde traumatisieren und sie nach mehr Gerechtigkeit verlangen liessen, als selbst das Gesetz bieten kann.
Zum Tode verurteilt
Die Mutter des Mädchens war wie versteinert, und ihr Schmerz wurde mit jedem Tag stärker. Doch dann erfuhr sie, dass der Mörder und Vergewaltiger gefasst, verhaftet, vor Gericht gebracht, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt worden war. Das Verbrechen war aufgeklärt und der Schuldige sollte bestraft werden. Die trauernde Mutter aber blieb von diesem Prozess ausgeschlossen.
Die Mutter empfand aber ein starkes Bedürfnis, dem Mörder von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Mit Hilfe der Organisation «Prison Fellowship» verabredete sie sich mit der Verwaltung der Haftanstalt, in der der Mörder auf seine Hinrichtung wartete. Es war nicht einfach. Die Gefängnisverwaltung befürchtete in dieser spannungsgeladenen Situation, sie könnte sich rächen wollen. Schliesslich wurde ein Treffen bewilligt; allerdings sollten die Mutter und der Mörder durch Gitterstäbe getrennt bleiben.
«Weshalb haben Sie das getan?»
Die Situation war sehr emotionsgeladen. Die Mutter erzählte dem Mörder mehrmals von ihren schlaflosen Nächten, ihren verstörten Gefühlen und dem unerträglichen Schmerz, den sie seit der Vergewaltigung und dem brutalen Mord an ihrer Tochter empfand. Sie wollte unbedingt von ihm wissen: «Weshalb haben Sie das getan? Wie haben Sie es getan?» Sie wollte genaue und konkrete Einzelheiten wissen. Doch Sie erreichte nichts. Der verurteilte Mann sagte nichts. Seine Augen zeigten keinerlei Regung. Seine Lippen blieben verschlossen.
Den Mörder adoptiert
Die Mutter besuchte ihn mehrmals. Obwohl sie die kalte, gefühllose Erscheinung des Mörders innerlich fast zerriss, kehrte sie immer wieder ins Gefängnis zurück. Eines Tages, als die Mutter vor der vergitterten Kammer stand, sah sie Tränen in den Augen des Häftlings. Plötzlich zeigte er Bedauern und Reue. Doch dies vergrösserte ihre Qualen nur noch. Bis ihr schliesslich die Lehre ihrer Kirche half, seine Reue anzunehmen. Als gläubige Frau wurde ihr klar, dass sie ihm ihre Vergebung gewähren musste. Er war jung, ein Waise, der in verschiedenen Waisenhäusern ohne Liebe und elterliche Zuneigung aufgewachsen war.
Bald schon trafen sie sich ohne trennende Gitterstäbe. Sie schlug ihm vor und überzeugte auch die Behörden davon, ihn, den Mörder und Vergewaltiger ihrer Tochter, als ihren eigenen Sohn zu adoptieren. Er willigte ein, und sie ging auf ihn zu, um ihren neuen Sohn zu umarmen. Zeugen berichten, dass sie sich sehr lange umarmt hielten und gemeinsam weinten. Von da an besuchte sie ihn jeden Tag und brachte ihm selbst zubereitetes Essen, Kleidung und persönliche Gegenstände. Die beiden hatten sich aufrichtig miteinander versöhnt. Einen Tag nach ihrem letzten Besuch wurde er nach taiwanesischem Recht erhängt.
Dies ist eine von vielen wahren Geschichten aus der ganzen Welt, die in die Vorbereitungen der ÖRK-Konferenz für Weltmission und Evangelisation (CWME) eingeflossen sind, die vom 9 bis 16. Mai 2005 stattfand. Die Konferenz beschäftigte sich mit den Fragen: Ist Versöhnung möglich? Was bedeutet Vergebung, und was ist nötig, damit sie geschehen kann, wenn das Verbrechen so grausam ist, dass der Schmerz unüberwindbar erscheint
Autor: Hugh McCullum
Quelle: ÖRK
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