Geburtstagsfeier
Herrnhut – gegründet im Namen des Herrn
Herrnhut ist weltweit bekannt durch die «Losungen» und die Weihnachtssterne. Vor dreihundert Jahren fanden evangelische Flüchtlinge hier eine neue Heimat. Am 17. Juni feiert der Ort Geburtstag.
Herrnhut ist ein Nest. Keine zwei Kilometer von einem Ortsschild zum anderen. In der Mitte die Kirche der Herrnhuter Brüdergemeine, umrahmt vom Zinzendorfplatz und einer Reihe von Gebäuden – ebenso wie die Kirche im Stil des sächsischen Landbarocks: drei bis vier Stockwerke, rote, nach unten hin leicht geschwungene Dächer mit Gaubenfenstern. Elegant, aber schlicht.
Es sind Gebäude, die an die christliche Tradition des Ortes erinnern und mit der Kirche eng verbunden sind: das Pilgerhaus, das Vorsteheramt der Gemeinde, das Witwenhaus, die Johann-Amos-Comenius-Schule der Herrnhuter Diakonie, das Zinzendorfhaus. An der Strassenecke hängt ein Herrnhuter Stern.
In östlicher Richtung schliesst die Comeniusstrasse an, wo die Comenius-Buchhandlung, das Pfarrhaus, das christliche Gästehaus «Komenský» mit dem tschechischen Namen des Pädagogen und Theologen sowie das Hospiz der Diakonie liegen. Links davon auf einer kleinen Anhöhe, dem Hutberg, der Friedhof «Gottesacker» samt einem kleinen weissen Aussichtsturm. Der ist auch im Stadtwappen zu sehen.
300-jähriger Geburtstag
Seit 1929 darf sich Herrnhut Stadt nennen. Mit seinen fünf Ortsteilen hat sie immerhin rund 6'000 Einwohner. Davon ist Herrnhut selbst der jüngste: In diesem Jahr feiert er seinen 300. Geburtstag. Der Ort ist untrennbar mit den Namen Comenius und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf verbunden – und mit der Brüdergemeine. 1722 siedelten sich auf dem Landstück des Grafen Zinzendorf protestantische Glaubensflüchtlinge aus dem katholischen Böhmen an.
Ihre religiösen Wurzeln liegen beim Reformator Jan Hus, der rund einhundert Jahre vor Luther in Prag wirkte. Comenius war im 17. Jahrhundert der letzte Bischof der Böhmischen Brüder. Nach dem Dreissigjährigen Krieg lebten die evangelischen Christen als verfolgte Minderheit im Untergrund. In Herrnhut erfolgte schliesslich ein Neustart.
Der theologisch gebildete, pietistisch geprägte und tieffromme Zinzendorf zog von Dresden schliesslich selbst in die neue Siedlung, um das geistliche und gemeinschaftliche Leben mitzugestalten und ihm eine Ordnung zu geben. Von einem Enkel Comenius’ wurde er zum Bischof der Brüder ordiniert.
Schon wenige Jahre nach Gründung Herrnhuts sandte die Gemeine Missionare aus. So kommt es, dass es heute auf der ganzen Welt Gemeinden der Herrnhuter Brüder gibt – mit insgesamt 1,2 Millionen Mitgliedern.
Die Gemeinde prägt den Ort
Zinzendorfs Ziel war es nicht, eine eigene Kirche zu gründen, sagt Pfarrer Peter Vogt. Dem Grafen sei es um eine Erneuerungsbewegung innerhalb der Kirche gegangen, darum, «Erweckte» zu sammeln: Menschen mit einer tiefen persönlichen Frömmigkeit, die ihr Leben ganz an Jesus orientieren. Glaube und Alltagsleben sollten keine voneinander getrennten Bereiche sein, sondern sich gegenseitig durchdringen. «Das ganze Leben ist ein Gottesdienst», erklärt Vogt den Gedanken dahinter.Abgegrenzte Siedlungen und gemeinschaftliches Leben waren daher ein Kennzeichen der «Erneuerten Brüder-Unität». Gebäude wie das einstige Wohnhaus für Witwen erinnern in Herrnhut noch heute an diese Tradition. Auch Häuser, in denen unverheiratete oder verwitwete Männer zusammenlebten, gab es.
Mit den diakonischen Einrichtungen, Schulen, einem Gästehaus und Unternehmen wie der Sternenmanufaktur prägt die Brüder-Unität auch ausserhalb der Kirchenmauern den Ort und ist einer der grössten Arbeitgeber.
Gemeinschaft auf Evangelischen, Katholiken und Atheisten
Längst besteht Herrnhut nicht mehr nur aus Gemeindegliedern. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das geändert. Flüchtlinge aus katholischen Gebieten kamen in den Ort, andere zogen wegen der Arbeitsplätze hierher, der Sozialismus hat ebenfalls seine atheistischen Spuren hinterlassen, sagt Pfarrer Vogt. Für die diakonischen Einrichtungen sei es mittlerweile nicht mehr so leicht, kirchlich engagierte Mitarbeiter zu finden.
Die Gemeinde in Herrnhut hat gut 500 Mitglieder, davon rund 300 aus dem Ort selbst, überschlägt er. Das Verhältnis der Kirche zur Kommune sei gut. Der Bürgermeister ist selbst Gemeindemitglied. Im Ort ist die Kirche aber auch ein bisschen eine eigene Welt.
Da die Unität hier als Kirche ihren Sitz hat, gibt es einen häufigen Wechsel von Menschen, die her- oder wegziehen. Oft sprechen sie nicht den regionalen Dialekt – wie Vogt selbst, der aus der Gemeinde in Königsfeld im Schwarzwald stammt, dann in den USA studierte, in Kirchengeschichte promovierte und nun seit gut 20 Jahren in der ostsächsischen Provinz Gemeindepfarrer ist, die Hälfte davon in Herrnhut.
«Es gibt atmosphärische Vorbehalte gegenüber der Kirche», sagt er mit Blick auf die Bevölkerung im Ort und der Region. Auch die Wahrnehmung, dass sich die Kirchen-Leute als etwas Besseres fühlten, die Geschichte des Ortes als etwas Eigenes in Anspruch nähmen. Vogt beschreibt seine Kirche als eine, der Mission in der Welt am Herzen liegt. Aber beim Kontakt zu den Menschen vor Ort sei sie «eher zurückhaltend». In den Ort hineinzuwirken, sei schwierig.
«Eine durch Tradition geprägte Kirche hat eine eigene Kultur, auf die man sich einlassen muss.» Ihre Frömmigkeit nennt Vogt «individuell-freiheitlich». Die Kirche wolle nicht vorgeben, was genau zu einem christlichen Leben gehört und was nicht. Durch das weltweite Netzwerk gebe es da auch unterschiedliche kulturelle Einflüsse auf die Glaubenspraxis. «Jeder braucht ein eigenes Verhältnis zum Heiland», betont Vogt einen zentralen Aspekt des Glaubensverständnisses.
Wunsch nach Erneuerung in Herrnhut
Die Brüdergemeinde ist nicht die einzige christliche Gemeinschaft in dem kleinen Ort. Es gibt auch eine katholische Gemeinde, Mitglieder der evangelischen Landeskirche, einige Baptisten, und das Christliche Zentrum. Vertreter aus allen Gemeinden treffen sich viermal im Jahr im Christenrat, um ökumenische Belange zu besprechen.
Das Verhältnis der Brüdergemeine zum charismatisch geprägten Christlichen Zentrum ist jedoch kein unbelastetes. Viele, die sich zu dieser Gemeinde halten, haben ihre Wurzeln in der Brüdergemeine.
Mitglieder des Zentrums berichten, dass die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Herrnhuts die Initialzündung waren für die Sehnsucht nach einem neuen geistlichen Aufbruch, einer neuen Erweckung – so, wie es damals bei Zinzendorf gewesen sei.
«Wir haben uns gefragt: Was hat die ersten Siedler damals geistlich bewegt, als Missionare in die Welt zu ziehen?», erzählt Mechthild Friese, die vor 50 Jahren dabei war. Mission, tiefes Bibelstudium, echtes Bekehrungserlebnis, Glaubenstaufe, Geistesgaben, Gebet – das ist der damals jungen Generation wichtig und bis heute Kennzeichen des Christlichen Zentrums.
Der Wunsch nach geistlicher Erneuerung, so berichtet sie, wuchs auch aus einem Gedanken der Busse heraus: Adolf Hitler sei Ehrenbürger Herrnhuts gewesen; die Sowjets brannten die Innenstadt mit Kirche und anderen historischen Gebäuden am Tag nach Kriegsende nieder. Darin sahen manche der Kriegsgeneration eine Strafe Gottes. Zunächst traf sich die Gruppe als Hauskreis, später in Räumen der Gemeine. Doch die Spannungen wurden mit eigenen Taufen und Abendmahlsfeiern irgendwann zu gross.
In den 90er Jahren entstand der Verein und damit auch die Gemeinde Christliches Zentrum Herrnhut. Sie kauften ein ehemaliges Waren- und späteres Krankenhaus: jetzt das Jesus-Haus, nur etwa zweihundert Meter von der Kirche entfernt. Herberge, Gebetshaus, Gottesdienstraum gehören dazu. Derzeit leben hier einige Flüchtlinge aus der Ukraine. Oft sind auch Gäste zum Beten hier, gute Beziehungen gibt es zur Bewegung «Jugend mit einer Mission», die im Nachbarortsteil eine Missionsschule betreibt.
Geschwisterliebe ist schwer
Das Christliche Zentrum nimmt das geistliche Erbe von Zinzendorf und den ersten Brüdern für sich ebenfalls in Anspruch. Die Abspaltung von der Brüdergemeine ist für viele Herrnhuter schmerzhaft gewesen. Auch durch Familien gingen deswegen tiefe Risse. Verletzungen tun bis heute weh. In einem so kleinen Ort kann man sich nicht einfach aus dem Weg gehen.
Gefragt nach ihrem heutigen Verhältnis sagen beide Seiten: Erst war es ein Gegeneinander, dann ein Nebeneinander, mittlerweile bemühen sie sich um ein stärker kooperatives Miteinander. Aber es ist beiden anzumerken, dass die Spannungen noch spürbar sind, zu schweigen von theologischen Unterschieden.
Es gibt jedoch auch Christen, die in beide Gemeinden gehen. Martin Theile gehört zu ihnen. Er war in der Kirchenleitung tätig, als Pfarrer der Brüdergemeine hat er sich im Ruhestand in Herrnhut niedergelassen. Sein Schwager war einer der Initiatoren des Christlichen Zentrums. «Man sieht daran, wie schwer es ist, Brüder und Schwestern zu lieben», sagt er und verweist damit auf einen Kerngedanken Zinzendorfs. Liebe müsse erkämpft und erarbeitet werden – indem man miteinander spreche und einander zuhöre. In Herrnhut betet ein Gebetskreis regelmässig für die Einheit der Christen im Ort.
Name ist Berufung
Ulrike Ruth Nováková ist hier aufgewachsen, in der Brüdergemeine getauft und konfirmiert worden, jetzt gehört sie zum Christlichen Zentrum. Der Name des Ortes ist auch eine Berufung für ihn, sagt die 43-Jährige. Wenn er sich daran orientiert, wird es ihm wohlergehen, ist sie sicher. Gelegen ist er am sanften Hang des Hutberges, der Anhöhe mit dem Gottesacker und dem Aussichtsturm, wo einst Schafe gehütet wurden.
Deshalb erinnerte der Gutsverwalter vor 300 Jahren Zinzendorf mit Verweis auf den Propheten Jesaja daran, für den Herrn «auf der Hut» zu sein, zu beten, den Glauben zu bezeugen und ihn zu leben. Zudem stellten die ersten Siedler den Ort bewusst «unter des Herrn Hut».
Als der erste Baum für Herrnhut gefällt wurde, stand ein Vers aus Psalm 84 Pate: «Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott.»
Dieser Text ist in der Ausgabe 2/2022 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen.
Zum Thema:
Ermutigung pur: Losungen - ein Wort für jeden Tag
Autor: Jonathan Steinert
Quelle: PRO Medienmagazin
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