Frieden

Versöhnung für eine verwundete Welt

An Wellnessprogrammen für Christen und Christinnen fehlt es nicht, zumindest in unsern Breitengraden. Das aber ist nicht die Sache von Marie Noëlle von der Recke. Sie leistet lieber Friedensarbeit für eine verwundete Welt. Das Porträt einer Netzwerkerin für den Frieden.

Magazin INSIST: Marie Noëlle von der Recke, sind Sie eine friedfertige Person?

Marie Noëlle von der Recke: Das hängt davon ab, wie man dieses Wort versteht. Sie fragen am besten meine Kinder oder meinen Ehemann. Oder die Menschen, mit denen ich in Gemeinschaft lebe! Wenn ein Konflikt mich nicht direkt betrifft, kann ich unter Umständen vermitteln. Wenn ich aber direkt betroffen bin, ist das eine andere Sache. Ich werde empfindlich, und dann ist es mit der Friedfertigkeit nicht mehr so einfach. Ich betrachte mich als Jüngerin Jesu unterwegs in der Nachfolge. Das ist kein Zustand, und auch kein Charakterzug, sondern ein Prozess; das ist eine Schule ohne Abschluss. Man hat nie ausgelernt, man muss ständig wieder ran, auch das Versagen gehört zum Lehrplan. Aber als Christin ist mir die Verheissung der Vergebung und des Neuanfangs immer gegeben.

Leben Sie in Frieden mit sich?

Als das Tagebuch von Mutter Teresa publiziert wurde, wurde deutlich, mit welchen Zweifeln diese grosse Frau gelebt hat. Keiner hätte geahnt, was für Kämpfe sie in ihrem Glaubensleben durchmachen musste. Dies zu hören, hat mich sehr getröstet. Ich bin in Frieden mit mir, wenn ich nach getaner Arbeit sagen kann: «Ich habe mein Bestes getan, und du Gott, weisst das.» Mit zunehmendem Alter habe ich allmählich gelernt, Widerstand gegen Selbstzweifel zu leisten, toleranter mit den anderen, aber auch mit mir zu werden.

Wieso kämpfen Sie für den Frieden?

Ich habe die Gewaltfreiheit des Evangeliums entdeckt, als ich eine Arbeit für die Uni schrieb. Ich beschäftigte mich darin mit der Wehrlosigkeit der Mennoniten in den USA und in Kanada. Als ich diese Arbeit anfing, war ich noch sehr von der allgemeinen Meinung in den Kirchen meines Landes (Frankreich) geprägt, dass der Krieg zwar immer schlimm sei, aber manchmal notwendig, um das Böse zu bekämpfen. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war in meiner Familie ganz lebendig präsent, denn mein Vater war im Widerstand tätig gewesen. Meine Mutter ist jüdischer Abstammung. Die Abschreckung mit Atomwaffen wurde in unserer Familie in Kauf genommen, als Garant für den Frieden.

Irgendwann verstand ich, dass die Lehre Jesu mit dieser Auffassung im Widerspruch steht. Darüber komme ich mit Menschen ins Gespräch. Sei es in der Mennonitengemeinde oder an der Europäischen Mennonitischen Bibelschule Bienenberg, wo ich acht Jahre lang unterrichtete, oder im Rahmen des friedenskirchlichen Netzwerks «Church and Peace». Dort versuchen wir zu buchstabieren, was es konkret heisst, in der Welt als Gemeinde den Frieden Christi zu bezeugen.
Wie buchstabiert man Frieden?

Wenn in der Bibel vom Frieden die Rede ist, wird von «Schalom» gesprochen. Schalom ist nicht die Abwesenheit von Kriegen und Konflikten, sondern das Leben, das Gott den Menschen verheisst, die in seinem Bund leben. Schalom schliesst Gerechtigkeit und Sicherheit, «genug für alle» und Gemeinschaft ein. Wo Schalom ist, finden sich nicht nur Sicherheit und Ruhe, sondern auch Gesundheit und Freude (Rabbiner Tom Kuera). Der erste Ort, an dem dieses Leben sich verwirklichen soll, ist die Gemeinde, die Gott aufbaut.

Church and Peace ist ein riesiges Netzwerk von 50 Organisationen. Was hält diese Menschen zusammen? Wie organisieren sie sich?

Unsere Mitglieder? Das sind 50 Gruppen und ungefähr genau so viele Einzelpersonen aus 12 Ländern Europas: Es sind Gemeinden, Lebensgemeinschaften, Friedensdienste und Friedensorganisationen sowie Ausbildungsstätten und Personen. Die internationale Geschäftsstelle ist die «Spinne» im Netz: Sie organisiert die Konferenzen, gibt Nachrichten aus Kirche und Welt ins Netz, die für die Mitglieder und weiteren Personen wichtig sein könnten1.

Unter Christen herrscht manchmal das Missverständnis, dass Frieden die Abwesenheit von Konflikt sei.

Wer das Evangelium gelesen hat, weiss, dass das Leben Jesu alles andere als konfliktfrei war. Die Erzählungen bezeugen seine Zuwendung zu Opfern von Unrecht und Gewalt, zu den Schwachen und Ausgegrenzten; andererseits erzählen sie von der Konfrontation mit den Mächtigen im religiösen wie auch im politischen Bereich.

Beides zusammen führte Jesus zum Kreuz. Konflikte gehören zum Leben. Die Frage ist nur, wie wir die Konflikte angehen. Da ist das Leben Jesu sehr aufschlussreich. Auch die neutestamentlichen Briefe widerspiegeln die Konflikte der Urgemeinde. Hinter den Positionen und Meinungen verbergen sich aber Bedürfnisse, die nicht ausgesprochen werden. Wahrheitsfindung besteht nicht darin festzustellen, welche Position die «richtige» ist, sondern welche Bedürfnisse im Raum stehen und wo die Konfliktparteien, wenn sie die Bedürfnisse hinter den Positionen entdecken, sich begegnen können. Wahrheit kann aber auch bedeuten, Unrecht zu entlarven und zu benennen.

Gerne wird der Seelenfrieden gegen den politischen ausgespielt. Wie sehen Sie das?

Diese Tendenz ist stark in den Kirchen des Nordens vorhanden. Die Privatisierung des Glaubens macht ihn bedeutungslos für das öffentliche Leben. Dieses steht im krassen Widerspruch zu den Aussagen des Neuen Testaments über Jesus. Einer meiner Lehrer im Theologiestudium hat es mal so formuliert: «Die Tendenz, die frohe Botschaft einengend zu deuten, führt unweigerlich zu einem verstümmelten Evangelium, einem amputierten Christus und einer hinkenden Kirche.» Leider wird dieses verstümmelte Evangelium in manchen Gemeinden gepredigt. Mit solch einem belanglosen Evangelium verlieren Kirchen ihre Bedeutung. Schliesslich gibt es in unserer Gesellschaft genügend andere Wellnessprogramme für Leib und Seele.

Wo sind derzeit die grössten Krisenherde? Ist der soziale Friede in Europa gefährdet?

«Church and Peace» arbeitet seit Jahren mit Friedensorganisationen in Südosteuropa, die sich seit dem Anfang des Krieges auf dem Balkan am äusseren und inneren Wiederaufbau der Region beteiligen. Wer die Geschichte des Balkans anschaut, kann sofort sehen, warum diese Arbeit so wichtig ist. Sie dient nicht nur der Heilung der erlittenen Verletzungen, sondern auch der Vorbeugung weiterer Explosionen, die es in der Vergangenheit periodisch immer wieder gegeben hat.

Meine andere Sorge ist die Zunahme der rauen Gewalt in unseren Städten und die Anziehungskraft des Rechtsradikalismus für Teile der Gesellschaft an vielen Orten in Europa. Da müssen auch die Kirchen präsent sein. Es geht darum, aus den gut bürgerlichen Ghettos der Gemeinden hinaus zu gehen und sich mit Kinder- und Jugendarbeit einzubringen. Wir müssen die Begegnung mit den Fremden suchen und die friedensstiftende Rolle der Gemeinde ernst und wahr nehmen.

Diesen Artikel hat uns das Magazin INSIST zur Verfügung gestellt.

Marie Noëlle von der Recke, 58, ist seit 1985 verheiratet und Mutter von 3 Töchtern. Sie hat in Frankreich und den USA Theologie studiert und lebt heute in der ökumenischen Lebensgemeinschaft Laurentiuskonvent in Schöffengrund, einem Dorf in der Nähe von Wetzlar. Die Mennonitin hat von 1977–1985 in der Mennonitischen Bibelschule Bienenberg unterrichtet und arbeitet in der Geschäftsstelle von «Church and Peace».

Links zum Thema:
Schalomdiakonat
L’arche en France (in französischer Sprache)
Sortir de la violence (in französischer Sprache)
Bread of Life (in englischer Sprache)


Autor: Dorothea Gebauer
Quelle: INSIST

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