Besuch trotz Krieg

Eine Schweizer Familie ermutigt Freunde in der Ukraine

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Jonas und Fränzi Mai (Bild: zVg)
Nach sorgfältigem Abwägen reiste Familie Mai kürzlich in die Ukraine. Gerade während des Krieges wollten sie ihre Freunde sehen und in der herausfordernden Zeit ermutigen.

Jonas Mai teilte Fränzis Liebe zur Ukraine nicht. «Wenn Gott mich in der Ukraine haben will, muss er deutlich zu mir sprechen», sagte Jonas und erwartete nicht, dass dies geschehen würde.

Es war eine Bodenwelle

Einer Hochzeitseinladung folgend, fuhr die fünfköpfige Familie im Mai 2015 dann in die Ukraine. «Wir fuhren hin und kamen wieder zurück. Alles gut.» Die Sache war für Jonas erledigt. Doch dann, drei Wochen später, stellte eine belanglos scheinende Begebenheit sein Leben auf den Kopf. «Ich war mit dem Auto unterwegs, als das Fahren über eine Bodenwelle bei mir sehr starke Emotionen auslöste.» Das Holpern der Bodenwelle erinnerte ihn an das Fahren auf ukrainischen Strassen. «Ich habe Heimweh nach der Ukraine!», schoss es ihm durch den Kopf. Es war ein Reden Gottes. «Von da an war uns klar, dass unser Leben irgendetwas mit der Ukraine zu tun hat.»

Ein zweites Zuhause gefunden

Im Frühling 2017 reisten sie erneut für zwei Wochen in die Ukraine. Sie lernten neue Leute kennen und bestehende Freundschaften wurden gestärkt. Im Herbst desselben Jahres traf die Familie den ukrainischen Pastor Elisey Pronin auf dessen Vortragstour in der Schweiz. «Es war einer dieser Momente, wo man spürt, dass Gott dabei ist, etwas zu tun.»

Der kurze Kontakt war wegweisend. Fränzi übersetzte das Buch von Elisey, in welchem er seine Erfahrungen des Krieges von 2014 beschreibt. «2019 machten wir die nächste Reise in die Ukraine und besuchten Eliseys Familie in Lviv.» In der dortigen Gemeinde fühlten sie sich sofort zu Hause. Auch die drei Kinder, die kein Wort verstanden, fühlten sich pudelwohl. Einer der Söhne wollte sogar eine Wohnung oder ein Haus in Lviv kaufen. Die ganze Familie hatte ihr zweites Zuhause gefunden.

Der Krieg bricht aus

Nach dem Abschied 2019 konnten sie nicht ahnen, wie lange es bis zum Widersehen dauern würde. Aufgrund der Einreisebestimmungen in der Coronakrise konnten sie 2020 und 2021 nicht in die Ukraine reisen. Die ganze Familie vermisste die Ukraine. Umso erfreuter waren sie über den Besuch von Elisey. «Als er Ende 2021 für eine Vortragsreise in die Schweiz kam, lebte er eine Woche in unserer Familie. Das war eine sehr wertvolle Zeit.»

Wenige Monate nach Eliseys Rückkehr in die Ukraine brach der Krieg aus. Familie Mai litt mit ihren Freunden. Über die Organisation HMK, bei welcher Elisey Projektpartner ist, liefen sofort Sammlungen von Hilfsgütern. Fränzi und Jonas packten an und versuchten, Leute zum Sammeln und Spenden zu motivieren. «Wir starteten eine WhatsApp-Gruppe, um Freunde in der Schweiz mit Informationen und Gebetsanliegen direkt aus der Ukraine zu versorgen.» Sie nahmen Anteil, beteten und versuchten zu ermutigen. Irgendwann im Laufe des Jahres kam dann die verrückte Idee auf, die Herbstferien in der Ukraine zu verbringen.

«Alle Kinder müssen einverstanden sein»

Sollte Familie Mai in die Ukraine fahren? Einerseits befand sich die Kriegsfront 1'000 km von Lviv entfernt, andererseits gab es aber immer wieder Raketenangriffe überall im Land. Ende August begannen sie, konkrete Pläne zu schmieden – mit der Bereitschaft, diese jederzeit wieder fallenzulassen. «Alle Kinder müssen einverstanden sein», sagten sie und beteten um Klarheit. «Schliesslich hatten wir alle die Gewissheit, dass wir reisen sollten.»

Familie und Freunde wurden informiert – wohlwissend, dass ihr Vorhaben nicht überall auf Begeisterung stossen würde. «Uns war immer klar, dass wir jederzeit abbrechen und umkehren würden, falls sich die Lage vor Ort veränderte.» Doch dann ging die Reise los und sie freuten sich, bald wieder in der Ukraine zu sein und ihre Freunde zu treffen.

«Ihr seid nicht allein!»

 «Unser grösstes Anliegen war, den Christen in der Ukraine zu sagen: Ihr seid nicht allein! Die Gemeinde in der Schweiz betet für euch.» Dazu kam, dass sie mit eigenen Augen sehen wollten, was immer wieder berichtet wurde: Die Notaufnahmen und Versorgung von Flüchtlingen und die vielen Menschen, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben Gott zuwandten.

Und sie waren überwältigt zu sehen, wie Kirchen im ganzen Land sich gemeinsam für die Leidenden des Krieges einsetzen. «Menschen, die bei Ausbruch des Krieges in die Westukraine geflohen und hier Jesus kennengelernt haben, übernehmen inzwischen schon Verantwortung für die Gemeinde.» Und Arbeit gibt es tatsächlich viel: Tausende wollen nicht nur humanitär, sondern auch geistlich versorgt werden. «Was die Ukraine am meisten braucht, ist Hoffnung!», ist Fränzi überzeugt. Und wo sollten sie Hoffnung finden, wenn nicht in der Gemeinde?

Zwei aussergewöhnliche Wochen

«Wir schätzen es, dass ihr da seid!», wurde öfters gesagt. Gemeinschaft wird generell sehr hoch gewertet. «Es kann jederzeit eine Bombe einschlagen und uns das Leben nehmen», sagte jemand. «Aber gemeinsam verbrachte Zeit kann uns niemand mehr nehmen.»

Regelmässig erklang während ihres Aufenthaltes der Luftalarm, welcher von der Bevölkerung meistens ignoriert wurde. Doch als in der zweiten Woche die Energieinfrastruktur in Lviv Ziel mehrerer Angriffe wurde, flohen alle in die Schutzräume. Durch den Stromausfall, aufgrund der Angriffe, fiel auch das Kommunikationsnetz zusammen. Die Kirche galt in dieser Zeit als Treffpunkt. Schwierige Situationen lassen sich gemeinsam besser aushalten.

Der Unterschied

Jonas erkannte den Unterschied zwischen Christen und anderen Menschen gut. «Menschen ohne Jesus werden hart. So hat ein Mann gesagt, dass er sich mittlerweile über jeden getöteten russischen Soldaten freut. Im Gegensatz dazu stehen Christen mit einer brennenden Liebe für die Menschen.» Es mag dieser Unterschied sein, der aktuell unzählige Menschen in ukrainische Gemeinden zieht.

Das Leben in einer Stadt ohne garantierte Stromversorgung und dadurch nur eingeschränkt funktionierender Versorgung von Nahrungsmitteln war für Familie Mai eine Erfahrung, die sie wohl nicht mehr so schnell vergisst. Vor allem erachten sie es aber als Privileg, eine gute Zeit mit ihren ukrainischen Freunden verbracht zu haben. Das kann ihnen niemand mehr nehmen.

Zum Thema:
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Datum: 14.11.2022
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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