Gott in China

Die Entwicklung der Christenheit in China gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen der Gegenwart. Als Mao Tse Tung 1949 die kommunistische Volksrepublik ausrief und danach alle Missionare des Landes verwies, lebten dort etwa 1,4 Millionen Christen. Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 verfolgten die Maoisten alle Gläubigen bis aufs Blut und zwangen sie in den Untergrund. Als sie 1978 im Zuge der Modernisierung Chinas wieder auftauchten, hatte sich ihre Zahl vervielfacht. Heute schätzt man, dass unter den 1,2 Milliarden Chinesen über 80 Millionen Christen leben – etwa so viele, wie Deutschland Einwohner hat. Aber nur 15 Millionen Protestanten und drei Millionen Katholiken gehören staatlich anerkannten Gemeinden an; die übrigen versammeln sich illegal.

Die kommunistischen Machthaber setzten zwar auf Marktwirtschaft und Unternehmertum, aber die Unterdrückungsmechanismen gegen Christen bleiben intakt. Das hat jetzt ein exzellenter China-Kenner dargelegt: Nicholas D. Kristof von der Tageszeitung New York Times. Der 43jährige Journalist war lange Büroleiter für das linksliberale Blatt in Peking und Hongkong. 1990 erhielt er mit seiner Frau Sheryl WuDunn den Pulitzer-Preis für die Berichterstattung über die blutig niedergeschlagene Demokratiebewegung auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989. Nach seinem jüngsten Besuch in China schilderte Kristof in der New York Times seine Begegnungen mit Christen auf dem Lande.

Im Nebenraum Sohn gefoltert

Sie zerbrach nicht, als man sie schlug und mit Elektroschocks folterte. Dem Tode nahe, weigerte Ma Yuqin sich immer noch, die Namen von Gemeindemitgliedern preiszugeben oder ihrem christlichen Glauben abzuschwören. Aber jetzt, Monate später, versagt ihre Stimme, und Tränen treten in ihre Augen, als sie das Schlimmste aus ihrer Erinnerung hervorholt: Während sie in einem Raum misshandelt wurde, folterten sie ihren Sohn im Nebenraum, so dass jeder die Schreie des anderen hören konnte – um sie zum Verrat an ihrer Kirche zu bewegen. “Sie wollten, dass ich sein Schreien höre”, schluchzt sie, “es brach mir das Herz.

Die 54jährige Ma, eine Frau mit eisernem Willen, ist tapfer genug, die Geschichte ihrer Verfolgung zu erzählen. Eine Geschichte, wie sie Christen in China bisweilen immer noch erleben. Dutzende von Mitgliedern ihrer Gemeinde sind in Haft. Wer auf freiem Fuss ist, wird auf Schritt und Tritt beobachtet. Trotzdem wagen es einige, sich mit mir zum Gespräch zu treffen. Einer nach dem anderen schleichen wir in ein unbeobachtetes Bauernhaus in der Nähe von Zhong Xiang, einer Stadt etwa tausend Kilometer südlich von Peking.

97 Prozent aller Hinrichtungen in China

In vielerlei Hinsicht geniessen die Chinesen heute mehr Freiheiten als je zuvor. Leicht kann man sich von den Handys und Hochhäusern blenden lassen. Aber im Hintergrund lauert noch der Polizeistaat. Vor allem in entlegenen Gebieten wie hier kann die Sicherheitspolizei immer noch ungestraft Menschen verhaften, foltern und töten, selbst wenn diese nichts anderes wollen als Gottesdienst feiern. Die US-Regierung wird China unter Druck setzen müssen, nicht nur internationale Handelsbestimmungen zu achten, sondern auch die Menschenrechte. Geheimakten der Kommunistischen Partei, veröffentlicht im gerade erschienenen Buch “Chinas neue Herrscher”, sind ein Beleg für die Macht der Sicherheitspolizei. Zustimmend heisst es in den Dokumenten, dass zwischen 1998 und 2001 60.000 Chinesen getötet wurden - entweder hingerichtet oder auf der Flucht erschossen. Das sind 15.000 pro Jahr. Das hiesse, dass 97 Prozent aller Hinrichtungen weltweit in China vollzogen werden. Es ist ebenfalls gut belegt, dass Hunderte Christen und Anhänger der Falun-Gong-Sekte im Polizeigewahrsam gestorben sind.

Christen werden mit Elektroschocks traktiert

In manchen Landesteilen können Christen ihren Glauben ungehindert praktizieren. Aber andernorts unterdrückt die Polizei unabhängige Gemeinden mit brutaler Gewalt. So erging es auch der Südchinesischen Kirche, einer evangelikalen Glaubensgemeinschaft in dieser Gegend. Sie hätten alle friedlich geschlafen, berichtet Frau Ma, als in jener Nacht im Mai 2001 Polizisten ins Haus stürmten und sie, ihren Sohn und ihre Schwiegertochter festnahmen. Den fünfjährigen Enkel liessen die Polizisten liessen sie allein zurück. Die 27jährige Freundin Yu Zhong-ju, die herüber kam, wurde ebenfalls verhaftet. Frau Yu, ebenfalls Christin, starb in Untersuchungshaft. Wahrscheinlich ist sie zu Tode geprügelt worden.

Wie Aussagen von Gemeindemitgliedern und aus dem Gefängnis geschmuggelte Kassiber zeigen, wurden Dutzende Christen zur selben Zeit verhaftet. Sie wurden mit Schlägern verprügelt, mit Viehstöcken misshandelt und mit glühenden Zigaretten verbrannt. Wenn sie das Bewusstsein verloren, kippte man ihnen einen Eimer Wasser über den Kopf, damit sie wieder zu sich kamen. Bei den Verhören traten die Polizisten den Männern mit den Absätzen auf die Finger, und junge Frauen wurden nackt ausgezogen und misshandelt.

“Sie haben ihre Elektrostäbe überall eingesetzt”, erzählt Frau Ma, während sie mit den Tränen kämpft. “Sie wollten uns demütigen.” Ursprünglich wurden fünf Kirchenmitglieder zum Tode verurteilt. Frau Ma kam frei; sie war so krank war, dass die Behörden befürchteten, sie könne im Gefängnis sterben. Ihr Sohn Long Feng kam in ein Arbeitslager, wo die Wachen andere Kriminelle dazu anstachelten, ihn zu verprügeln.

Regierung hat mehr Angst vor dem Volk als das Volk vor ihr

Das ist das Kuriose am Christentum in China, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Tausende von Missionaren frei agieren konnten und doch kaum einen merklichen Eindruck hinterliessen. Jetzt aber, wo ausländische Missionare verbannt sind und die Untergrundkirche verfolgt wird, blüht das Christentum mit Millionen Gläubigen auf. Man muss Präsident George Bush zugute halten, dass er das Thema Religionsfreiheit bei seinen Gesprächen mit der chinesischen Führung betont hat. Es gibt auch Fortschritte. Im Oktober hat ein Gericht die Todesurteile gegen die Leiter der Südchinesischen Kirche widerrufen und in langjährige Gefängnisstrafen umgewandelt. Immer mehr zeichnet sich eine Veränderung historischen Ausmasses ab: Die chinesische Bevölkerung hat mittlerweile weniger Angst vor der Regierung als die Regierung vor ihr.

Ich hatte erwartet, dass Frau Ma wie alle andere Christen, mit denen ich sprach, nicht wollte, dass ihr Name genannt wird. “Nein”, widersprach sie, “schreiben Sie meinen Namen. Ich habe keine Angst. Die Polizei hat Angst vor internationalem Druck, aber ich habe keine Angst vor ihr.”

Nicholas D. Kristof

Datum: 13.12.2002
Quelle: idea Deutschland

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