Billy Graham
Bescheidenheit und globale Wirkung
Livenet: Sie haben Billy Graham getroffen. Was beeindruckte Sie an ihm?
Hanspeter Nüesch: Beim ersten Besuch lag er im Krankenbett. Beim zweiten Besuch war er wieder auf den Beinen und wir konnten zusammen das Mittagessen einnehmen. Wir trafen einen von der Parkinson-Krankheit gezeichneten Mann, der leise und langsam sprach. Aber was er sagte, das hatte Gehalt.
Er erzählte von Begegnungen mit Persönlichkeiten, die ihn geprägt hatten. Immer wieder führte er das Gespräch auf Jesus Christus, der für ihn „everything“ – „alles“ bedeutet. Alle bleibende geistliche Frucht in seinem Leben habe Jesus gewirkt. Er sei froh, wenn ich nicht so viel von Billy Graham, sondern mehr von Jesus Christus schreibe, sagte er.
Äusserlich schwach und zerbrechlich wirkend, ist Billy Graham wach im Geist. Er verfolgt das Zeitgeschehen immer noch mit grossem Interesse. Ich zeigte ihm einen Filmausschnitt vom Christustag 2004 in Basel, der ihn offensichtlich an alte Zeiten als Evangelist in Stadien erinnerte. Er zeigte sich sehr berührt. Ob wir Schweizer Christen nicht anderen Ländern helfen könnten, ähnliche Christustage durchzuführen? Er selber könne selbst nichts mehr unternehmen. Wir beteten für ihn um eine spezielle Kraftausrüstung Gottes.
Was ist Billy Grahams Erfolgsgeheimnis?
Meines Erachtens stehen vor allem drei Dinge hinter Billy Grahams langjährigem Erfolg.
Erstens ist er zeitlebens seinem gottgegebenen Auftrag als Evangelist treu geblieben. Er hat das biblische Evangelium einfach und verständlich verkündigt. Er liess sich dabei von nichts abbringen, ob er nun vor Tausenden von Menschen sprach oder unter vier Augen. Er glaubt mit ganzem Herzen, dass die Bibel Gottes Wort für uns heutige Menschen ist.
Zweitens lebt er eine intime Beziehung zu Gott, dem er in allen Dingen gefallen will. Gemäss seinen Kindern und Enkeln war er viel auf den Knien vor Gott und bis ins hohe Alter lernte er Bibelstellen auswendig. Sicher ist seine aussergewöhnliche Bescheidenheit und Demut eine Frucht seiner tiefen Gottesbeziehung.
Drittens haben er und zwei Freunde 1948 einen wegweisenden Entschluss getroffen: alles Menschenmögliche zu unternehmen, um einen integren, Gott wohlgefälligen Dienst zu tun, der keinen Anstoss für Kritik bieten würde. Sie haben ihre Verpflichtung in vier Punkten zusammengefasst. Sie wurde später als Manifest von Modesto bekannt:
1. Transparenz: Sie entschieden sich, ihre Finanzen und Lohnbezüge immer offen darzulegen.
2. Wahrhaftigkeit: Sie entschieden sich, keine Zahlen von Besuchern und Bekehrungswilligen (engl. inquirers) aufzublähen.
3. Reinheit: Sie entschieden sich, nie mit einer Frau (die Gattin ausgenommen) allein in einem Raum zu sein.
4. Demut: Sie entschieden sich, ihre Geschwister höher zu achten und auf jegliche Kritik an Mitchristen zu verzichten.
Das Plattform-Team (Billy Graham, Cliff Barrows und George Beverly Shea) blieb beinahe 60 Jahre zusammen. Die drei führten 2005 in New York gemeinsam ihre letzte Evangelisation durch. Was für ein Zeugnis von Konstanz auf der Grundlage persönlicher Integrität!
Billy Graham prägte die religiöse Szene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit. Welche Bedeutung hat er für die Christen in den USA und der westlichen Welt?
Für die Christen in den USA ist Billy Graham auch heute noch einfach Amerikas Pastor. Immer bei entscheidenden Ereignissen wie Einsetzungsfeiern von Präsidenten oder nach 9/11 wurde er als Seelsorger beigezogen. Billy Graham war geistlicher Mentor für zehn amerikanische Präsidenten.
Vor allem durch seine vom Radio und Fernsehen landesweit übertragenen Ansprachen war er aber auch der Pfarrer der einfachen Leute. Seit beinahe 60 Jahren berichteten ‚Time’ und ‚Newsweek’ an prominenter Stelle über ihn. Noch in den letzten Jahren erschienen in beiden Zeitschriften Titelgeschichten. Für viele Amerikaner personifiziert Billy Graham die positiven Tugenden der Vereinigten Staaten.
Sein Dienst in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hat zu einer Renaissance des Glaubens vor allem in der englischsprachigen Welt geführt. Seine Grossevangelisationen hatten in den USA, in England und Schottland, in Australien und Neuseeland einen riesigen Erfolg, der sich nicht zuletzt in der Zunahme des Kirchenbesuchs niederschlug. Es gab Jahre, in denen jeder zweite britische Pastor oder Missionar angab, er hätte den Glaubensanstoss durch Billy Graham erhalten.
In der nichtenglischen Welt hatten seine Evangelisationen nicht diese durchschlagende Wirkung, obwohl sie in der Öffentlichkeit wichtige Zeichen setzten. Es ist schwierig, seine Pionierdienste im damaligen Ostblock richtig einzuschätzen. Die Meinungen gehen auch heute noch weit auseinander, ob sein Einsatz in kommunistisch regierten Ländern der Sache Christi wirklich gedient habe.
Welche Bedeutung hat Graham für die Kirchen in der Dritten Welt?
Nachhaltigen Einfluss in der Dritten Welt erlangte Billy Graham nicht durch Evangelisationen, sondern durch die grossen Konferenzen in Berlin, Lausanne, Amsterdam und Manila, an denen zahlreiche Vertreter aus Drittweltländern teilnahmen. Namentlich die Evangelisten-Konferenzen in Amsterdam 1983, 1986 und 2000 haben dazu beigetragen, dass das Evangelistenerbe von Billy Graham sich weltweit ausbreitete.
Hinter jedem grossen Mann steht eine aussergewöhnliche Frau. Wer war Ruth Graham Bell?
Billy Graham vermisst seine Frau Ruth sehr, die im Juni 2007 verstorben ist. Ruth Graham Bell war eine absolut aussergewöhnliche Person. Sie wuchs als Tochter eines Missionsarztes in China auf und besuchte das Gymnasium in Pjöngjang im heutigen Nordkorea. Billy Graham verdankt seinen weiten Horizont zu einem wesentlichen Teil seiner Ehefrau. Ruth blieb zeitlebens der presbyterianischen Kirche treu, trotz wiederholten Bekehrungsversuchen von lieben Baptistenfreunden ihres Mannes. Sie war sehr belesen. Viele Beispiele und Illustrationen, die Billy Graham in seinen Evangelisationen und Büchern benutzte, stammten von ihr.
„Was für eine wunderbare Gefährtin sie ist – voll biblischer Weisheit für jede Gelegenheit und für jeden Anlass“, so eine Tagebuchnotiz ihres Ehemannes kurz vor der ersten Evangelisation in New York 1957. Ruth Graham hatte ein grosses Herz für die gestrandeten Menschen. Viele in Montreat, wo Grahams wohnen, und Umgebung verehren sie noch heute als eine Person, die immer eine hilfreiche Hand hatte und die Religion in Schuhleder verkörpert, wie es ihr Pastor einmal ausdrückte. Tatsächlich war sie sehr praktisch veranlagt und schaute, dass Billy nie abhob. Ihr Humor und ihre Schlagfertigkeit waren unübertroffen. Vor allem aber war sie eine Person, die im Alltag mit Gott und der Bibel lebte. Sie sagte einmal, sie habe ihre fünf Kinder vor allem auf den Knien erzogen.
Im Vorfeld der Evangelistenkonferenz in Amsterdam 1986 kam ich an den Nachbartisch der Grahams zu sitzen. So hatte ich die Gelegenheit, ihr Gespräch in den grossen Linien mitzuverfolgen. Ich erlebe einen recht unsicheren Billy, der zweifelte, ob er den eintreffenden Evangelisten aus aller Welt, die z.T. Märtyrernarben aufweisen würden, überhaupt etwas zu geben hatte. Und ich erlebte eine starke Ruth, die Billy ermutigte, einfach das zu geben, was er zu geben hatte. Gott könne schon etwas daraus machen. Ja, es hätte keinen Billy Graham gegeben ohne die weise Ermutigerin an seiner Seite. Ruth hatte an der Seite von Billy und als fünffache Mutter sehr viel Herausforderndes zu tragen. Ihre Gefühle und Probleme verarbeitete sie in Gedichten.
Vom „Maschinengewehr Gottes“ (Spitzname in den 1950ern) zum menschenfreundlichen Prediger des Evangeliums: Ist Graham im Alter mild geworden oder hat er sich theologisch verändert?
Auch bei Billy Graham ist eine gewisse Altersmilde erkennbar. Mehr als je betont er die Liebe Gottes, ohne aber das Gericht Gottes zu verneinen. Ich habe unzählige Predigten von den Vierziger-Jahren (als Evangelist bei ‚Jugend für Christus‘) bis zu den letzten evangelistischen Ansprachen 2005 in New York miteinander verglichen. Anfänglich betonte er in leidenschaftlicher Weise die Not der Zeit und das bevorstehende Gericht, angesichts der grassierenden Gottlosigkeit und der wachsenden kommunistischen Gefahr. Immer mehr betonte er jedoch, dass alle Menschen eine geistliche Neugeburt erleben müssen, auch die sogenannt anständigen.
In den letzten Jahren versuchte er Menschen vor allem dadurch in die Nachfolge Christi zu rufen, dass er von Gottes gewaltiger Liebe zu ihnen sprach. Ich fand praktisch keine Ansprache, wo nicht die Heilstat von Jesus Christus und die Notwendigkeit der Umkehr zu ihm im Mittelpunkt stand.
Was die zentralen Aussagen des christlichen Glaubens betrifft, hat sich Billy Graham in all den Jahren nicht verändert. Immer war seine Botschaft einfach und auf Christus zentriert, wobei er die sozialen Auswirkungen des Evangeliums über die Jahre mehr betont hat. Immer aber machte Billy klar, dass die Transformation von innen nach aussen geschehen muss. Seine tiefe Überzeugung war, dass der Mensch zuerst durch das Wirken des Heiligen Geistes verändert werden muss, bevor er mit Gottes Liebe Veränderungen in der Gesellschaft bewirken kann.
Wie hat sich Evangelisation, das Bezeugen, die Verkündigung des christlichen Glaubens, durch Graham verändert?
Billy Graham war der erste Massenevangelist, der Radio und Fernsehen voll in seine Evangelisationen miteinbezog. Er hat der Evangelisation ein menschenfreundliches Gewand gegeben. Ein Freund drückt es so aus: „Als Geschäftsmann in den USA musste ich einfach den TV-Botschaften Grahams zuhören, weil da ein Gentleman sprach, der das Evangelium auf noble Art verkündete. Es wäre unanständig gewesen abzuschalten.“
Nicht zuletzt hat Billy Graham der Evangelisation auch ein soziales Antlitz gegeben. Er predigte nur dort, wo nicht an der Rassentrennung festgehalten wurde. Sein Credo war: „Vor dem Kreuz Christi gibt es keine weissen, schwarzen oder farbigen Menschen, nur begnadigte Sünder.“
Mit seiner Organisation, der „Billy Graham Evangelistic Association“ (BGEA), platzierte er an evangelikalen Missionskonferenzen das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung zum ersten Mal prominent und rief zu einem ganzheitlichen christlichen Zeugnis auf. Die an der Lausanner Konferenz von 1974 formulierte Erklärung benennt in Punkt 5 die „soziale Verantwortung der Christen“:
„Wir tun Busse für dieses unser Versäumnis und dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschliessend angesehen haben. Versöhnung zwischen Menschen ist nicht gleichzeitig Versöhnung mit Gott, soziale Aktion ist nicht Evangelisation, politische Befreiung ist nicht Heil. Dennoch bekräftigen wir, dass Evangelisation und soziale wie politische Betätigung gleichermassen zu unserer Pflicht als Christen gehören. Denn beide sind notwendige Ausdrucksformen unserer Lehre von Gott und dem Menschen, unserer Liebe zum Nächsten und unserem Gehorsam gegenüber Jesus Christus.“
Welchen Anteil hatte die BGEA an Grahams Erfolg? Welche Impulse für Evangelisation sind von ihr ausgegangen?
Die BGEA hat von Billy Grahams Charisma gelebt und lebt auch heute noch davon, nachdem Billy Grahams Sohn Franklin in seine Fussstapfen als Evangelist und Leiter der BGEA getreten ist. Billy Graham war auf die BGEA angewiesen, um seine evangelistische Botschaft weltweit verbreiten zu können. Sie bereitete die Evangelisationen generalstabsmässig vor, schulte die mitarbeitenden Kirchgemeinden und tat auch alles, damit suchende Menschen eine geeignete Gemeinde fanden.
Natürlich geht es ohne professionelles Management nicht. Aber die Organisation und das Team der Mitarbeiter hätten nichts gefruchtet, hätte nicht im Mittelpunkt ein völlig Gott hingegebenes Ehepaar gestanden, das seinen evangelistischen Auftrag treu über all die Jahre erfüllte.
Was ist Billy Grahams Vermächtnis fürs 21. Jahrhundert?
Ich sehe vor allem drei Dinge:
a) Seine integre, demütige Persönlichkeit, die zeitlebens auf den evangelistischen Auftrag fokussiert war.
b) Sein Amt als „Gottes Prophet“ für Länder und Regierende. Der Fotograf, der mit ihm reiste, berichtete, dass Billy Graham dabei das Gespräch immer wieder auf die zentralen Dinge des Evangeliums lenkte.
c) Seine Konferenzen, die ein starkes Gegenüber zu den theologisch liberalen Tendenzen des Weltkirchenrates bildeten. Statt Mission einzustellen (wie dies vom Weltkirchenrat gefordert wurde), hat Graham Mission und Evangelisation weltweit vorangetrieben. Er hat ihr in der Dritten Welt wesentliche Impulse gegeben, so dass das Christentum heute auf der südlichen Halbkugel dynamischer ist als bei uns.
Links zum Thema:
Amerikas Pastor: Billy Graham wird 90
Online-Dossier von Christianity Today zu Billy Graham mit diversen älteren Texten
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch
Livenet Aktuell
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