Christlicher Glaube
Ein Gott für die Stadt
Im Westen werden christliche Kirchen und Gemeinden ein Phänomen der Vororte. Mitten in der City sind sie selten vertreten. Doch ihre grösste Wachstumszeit in den ersten Jahrhunderten erlebte Kirche in den Städten.
Wer heute irgendwo in der City unterwegs ist, sieht Banken und Shopping-Malls, teils noch heruntergekommene Altbauten, teils schon luxussanierte Neubauten. Kirchen und auch christliches Leben spielen in dieser Umgebung kaum eine Rolle und wenn, dann eher als Touristenattraktion. Sechs Millionen Menschen besichtigen jährlich den Kölner Dom; zu den Gottesdiensten kam auch vor den Corona-Abstandsregelungen nur ein Bruchteil davon. Freikirchen sind – nicht nur wegen des fehlenden Kirchturms – in unseren Städten kaum wahrnehmbar.
Die Geschichte beginnt in der Stadt
Das war in den Anfangsjahren der christlichen Kirche anders. Der Religionswissenschaftler Wayne Meeks zeigt, dass die frühen Christen bereits innerhalb eines Jahrzehnts nach der Kreuzigung von Jesus die Dorfkultur Palästinas hinter sich liessen und die Städte zur vorherrschenden Umgebung der christlichen Bewegung wurden. Deutlich wird dies, wenn man sich einmal die Liste der damals bevölkerungsreichsten Städte des Römischen Reichs anschaut. Fast alle spielten bereits im Neuen Testament eine wichtige Rolle: Rom (650'000 Einwohner), Alexandria (400'000), Ephesus (200'000), Antiochia (150'000), Apameia (125'000), Pergamon (120'000), Sardis (100'000) und Korinth (100'000). Schon Adolf Harnack, ein Theologe des 20. Jahrhunderts, stellte fest: Je grösser der Ort oder die Stadt, desto grösser (auch relativ) war die Zahl der Christen darin.
Ein Heiligkeitsverständnis mit Auswirkungen
Jahrhunderte später in Westeuropa hat sich diese frühkirchliche Situation völlig geändert. Und zwar hauptsächlich, weil sich Christen und ihre Gemeinden geändert hatten. Immer noch herrschten in den Städten «korinthische Verhältnisse», sie galten häufig als «Sündenpfuhl». Da viele Christen ihren Glauben als persönliche Heiligung verstanden und sich «absondern» wollten, entstand so etwas wie eine christliche Stadtflucht. Viele Erweckungen hatten ihre Zentren auf dem Land – und war nicht schon das biblische Paradies ein Garten?
Sicher spielten noch eine ganze Menge Faktoren mit, doch Tatsache ist, dass sich seitdem in unseren Breiten Christen hauptsächlich in ländlichen Regionen bis hin in die Vororte der Städte versammeln. Es gibt zwar inzwischen eine wachsende Gegenbewegung durch City Churches und andere Grossgemeinden, die sich durchaus in Stadtzentren zum Gottesdienst treffen, doch spätestens wenn man schaut, wo ihre Besucher wohnen, dann ist man wieder auf dem Land und in den Vorstädten angekommen. Kein Wunder, dass die Auswirkungen auch grosser Gemeinden in ihrer städtischen Umgebung so gering sind.
Glaube als Antwort auf städtische Probleme
Der Religionssoziologe Rodney Stark untersuchte das Gemeindewachstum der frühen Kirche. Dabei warf er einen Blick auf die Situation im antiken Antiochia – der Stadt, in der Paulus und Barnabas arbeiteten und als erste Missionare ausgesandt wurden. Die Stadt war zu schnell gewachsen. Sie befand sich immer noch in ihren alten Stadtmauern, wobei bis zu 30'000 Einwohner pro Quadratkilometer darin lebten. Zum Vergleich: In München ist die Bevölkerungsdichte in Deutschland am höchsten – mit 4'700 Einwohnern. Selbst Tokio kommt «nur» auf 15'000. Und in Antiochia waren grosse Teile der Statdtfläche noch für Tempelanlagen und die Villen der Reichen geblockt. Das bedeutete noch weniger Raum für den Rest der Bevölkerung. Deren Häuser wurden ständig aufgestockt und brachen immer wieder zusammen.
Es gab keine Kanalisation, kaum Heizung, gekocht wurde über offenen Feuern, die hygienischen Zustände waren katastrophal. Die meisten Menschen lebten in einem unvorstellbaren Elend und Dreck. Dazu kam der wachsende Bedarf an Arbeitskräften: Permanent kamen neue Menschen dazu. Kriminalität, Gewalt und Krankheiten herrschten. Und der christliche Glaube war laut Stark die Antwort schlechthin auf dieses Elend und Chaos, indem er das Leben darin durch neue Massstäbe und Arten des Zusammenlebens signifikant erneuerte:
- Städten voll Obdachloser und Armer bot das Christentum Wohltätigkeit und Hoffnung.
- Städten voll Fremder und Zugezogener bot es eine Basis zur direkten Zugehörigkeit.
- Städten voll Waisen und Witwen bot es ein erweitertes, tragfähiges Familienmodell.
- Städten voller Gewalt und ethnischer Unruhen bot es eine neue, solidarische Basis der Gemeinschaft.
- Städten voll Epidemien, Bränden und Erdbeben bot das Christentum effektive Krankenpflege.
Das Elend in der antiken Welt brachte das Christentum nicht hervor. Doch mit seiner Ausbreitung zeigte der christliche Glaube seine Überlegenheit, den damaligen Problemen der Menschen zu begegnen.
Wo sind die Menschen?
Heute hat sich vieles geändert. Längst sind Innenstädte hip geworden und ihre ehemaligen Bewohner durch Gentrifizierung verschwunden. Doch ist die Lösung dafür eine hippe Grossstadtgemeinde, die wegen ihrer zahlreichen Gutverdiener die exorbitanten Mieten in der Stadt zahlen kann?
Wenn Gemeinde missional wirksam sein will, dann kann sie nicht länger nach paradiesischer Umgebung suchen. Dann kann sie auch keine Missionsbewegung der ersten Christen nachmachen. Dann gilt nach wie vor, dass sie dort sein sollte, wo die Menschen sind – und zwar mit ihrem Versammlungsort für Gottesdienste genauso wie mit den Wohnorten ihrer Mitglieder. Dann ist sie, ob auf dem Land oder in der City, mittendrin.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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