Geschichte einer kleinwüchsigen Frau
«Die ersten Begegnungen sind stets die schwierigsten»
Kathrin sucht ihren Schlüssel. «Irgendwo habe ich ihn doch hingelegt...» Er liegt auf dem Schuhschrank beim Eingang. Kein Problem für mich. Ich sehe ihn, ohne lange suchen zu müssen. Kathrin aber kann ihn da oben nicht sehen. Für sie liegt er so fern, wie wenn ich ihn auf dem Kleiderschrank abgelegt hätte.Kathrin Keller ist kleinwüchsig. Körpergrösse 128 cm steht in ihrem Reisepass. Aber eines wird in unserem Gespräch schnell klar: Ohne Bilder könnte ich über sie einen Bericht schreiben, und niemand wüsste etwas von ihrer kleinen Grösse. «Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mich ohne Sonderbehandlung erzogen haben», sagt Kathrin, und man spürt dabei einen gesunden Stolz. Sie ist mutig ihren Weg gegangen. Hat in den vergangenen 50 Jahren vieles erlernt und erlebt, das nicht viele Schweizer erfahren haben. Sie hat sich beruflich immer wieder weitergebildet und verändert: Medizinische Laborantin, kirchliche Jugendarbeiterin, Missionarin, Sozialarbeiterin. Sie hat es gewagt, ohne Rücksicht auf ihre kleine Körpergrösse ins Ausland zu reisen und dort ein Kirchenprojekt aufzubauen.
Verunsicherte Mitmenschen
Kathrin hat immer wieder den Mut aufgebracht, an verschiedenen Orten neu zu beginnen. Dabei ist gerade dies für klein gewachsene Menschen alles andere als einfach. «Die ersten Begegnungen sind stets die schwierigsten.» Die Mitmenschen wissen oft nicht, wie sie einer so kleinen Frau begegnen sollen. Manche gehen vor ihr auf die Knie, damit sie auf gleicher Höhe mit Kathrin sprechen können. Das ist ihr dann sehr peinlich. Sie bittet jeweils ihre Gesprächspartner aufzustehen und schlägt dann vor, sich irgendwo bequem hin zusetzen. Sitzend ist der Unterschied viel geringer und die Situation entspannt sich.
Frage der Perspektive
Der Grössenunterschied ist für Kathrin nicht halb so dramatisch wie für ihre Gesprächspartner. «Ich kenne ja keine andere Perspektive. Ich schaue immer von unten nach oben. Ausser Kinder sind ja alle grösser als ich.» Dass ihr fast alle Menschen einige Augenblicke lang nachschauen, nimmt Kathrin oft nur unbewusst wahr. «Es ist einfach so.» An einem neuen Ort mehr, wo man sie kennt, etwas weniger. In Asien waren ihre Hautfarbe und die Körpergrösse ein grosses Thema. Oft war sie umringt von Menschen, die sie betrachteten. Die einen lachten sie aus, die anderen bewunderten sie. «Hier in der Kleinstadt ist es wesentlich einfacher. Man kennt mich. Ich falle kaum noch auf.»
Glaube als Kraftquelle
Kathrins gesundes Selbstvertrauen hat verschiedene Wurzeln: Die Selbstständigkeit mit der sie erzogen wurde, der doch eher mutige und direkte Charakter und Kathrins Glaube. «Ich kann etwas und brauche Jesus dennoch», lautet Kathrins Lebensformel. Sie ist froh, dass sie im Glauben eine starke Kraftquelle gefunden hat. «Ich weiss, Gott steht auf meiner Seite. Das macht mich gelassener und mutiger. Ich muss nicht selber kämpfen und mir auch nicht alles gefallen lassen.» Aber vielleicht wichtiger als alles andere ist für Kathrin die Gewissheit, einen konkreten Auftrag in dieser Welt zu haben. Niemand ist bedeutungslos. Ihren ganz persönlichen Beitrag sieht Kathrin darin, so zu leben, dass Mitmenschen sehen, es gibt ein lohnenswertes Leben – sowohl für Behinderte, als auch für Menschen ohne Behinderung. Lohnenswert, weil Gott dem Leben Wert und einen tiefen, bleibenden Sinn gibt.Starke und mutige Frau
Oft sagen Menschen zu Kathrin: «Du bist eine starke, mutige Frau!» Sie selber ist überzeugt, dass ihre Kraft und ihr Selbstvertrauen ganz stark mit ihrem Glauben zusammenhängen: «Ich und mein Glaube sind ein Paket», sagt sie und formt dabei lachend ihre kleinen Hände, wie wenn sie ein grosses Paket halten würden. «Wir gehören ganz zusammen. Jesus und ich – dieses starke Paket kann man nicht auseinanderdividieren!»
Doch Kathrin kennt auch schwierige Jahre, wo ihr Glaube auf die Probe gestellt wurde. Sie musste ihre Pläne aufgeben. Sie fühlte sich einsam und hatte Angst vor dem eigenen Mut. In dieser Zeit holte sie sich bei einer Seelsorgerin Hilfe. Ihre barmherzige Seite wurde in dieser Zeit gefördert.
«Sanfte Seite» entdeckt
Sie erkannte, wie grob sie in der Vergangenheit gekämpft hatte – hart zu sich und andern. Sie hat in dieser Zeit der inneren Prozesse viele Texte über das Leben von Jesus gelesen. Dabei hat sie entdeckt, dass Jesus zuerst einmal gibt. «Er hat mich in den schwierigen Jahren nie verlassen. Er beschenkt mich. Mein Glaube gibt heute meinem Leben eine sanfte, einfühlsame Seite, so dass ich nicht mehr so hart mit mir und mit anderen bin!» Ohne ihren Glauben an Jesus Christus wäre Kathrin wohl bitter und zynisch. «Der Glaube liess mich meine sanfte Seite entdecken.» Kathrin kann aber auch heute noch ganz schön kämpfen. Kognitiv und verbal.
Mit Körperkraft hat sie wenig auszurichten, das hat sie früh begriffen. Aber denken kann sie scharf und klar. Und auch formulieren ist ihre Stärke. Mündlich und schriftlich hat sie was drauf.
Kleinwüchsige «nicht wie Kinder behandeln»
Die Gefahr, dass sich kleine Menschen hart und etwas verbissen durchs Leben kämpfen, hat Kathrin erkannt. «Man geht unter, wenn man sich nicht wehrt. Diese Erfahrung prägt.» Deshalb ist es laut Kathrin so befreiend, zu entdecken: «Einer, der viel grösser ist als ich, sorgt für mich. Jesus setzt sich für mich ein. Er lässt mich sanfter werden. Er lässt mich im Glauben ruhig werden, wenn ich mich von ihm beschenken lasse. Hilfe anfordern und Hilfe annehmen! Im täglichen Leben ist dies für Kathrin schon lange selbstverständlich.
Sie ist immer wieder auf praktische Hilfe angewiesen, auch wenn sie sonst sehr selbständig ist. Vieles ist schlicht zu gross, zu schwer oder zu weit oben für ihre kurzen Arme. Sie ist ihren Nachbarn sehr dankbar, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen kann. Man muss kleine Menschen nicht wie Kinder behandeln, sondern natürlich helfen, wenn Hilfe nötig ist. Es fällt ihnen nicht immer leicht, Hilfe zu holen oder darauf angewiesen zu sein. «Manchmal ist es kein Problem, manchmal stört es mich.»
«Jesus weiss, wie ich mich fühle»
Es ist für Kathrin sehr befreiend, dass sie ihre Alltagssorgen mit jemandem teilen kann, der sie durch und durch kennt. «Jesus weiss, wie ich mich fühle. Er liebt mich. Er versteht mich, wenn ich nach getaner Arbeit nudelfertig bin.» Kathrin arbeitet als Sozialarbeiterin mit drogenabhängigen Menschen. Diese Arbeit fordert heraus. Nicht selten kommt sie sehr erschöpft und müde heim. Doch dann wartet noch der Haushalt und das Trampolin. Kathrin muss ihren kleinen Körper fit halten. Die gesundheitlichen Risiken sind bei kleinwüchsigen Menschen gross. Sie leiden an Verspannungen und Arthrose. Kathrins Gelenke haben sich auch schon ganz schön abgenützt. Die Röntgenbilder zeigen deutliche Spuren der Zeit. Ihr Arzt staunt, dass sie keine Schmerzen hat.Und Kathrin ist dafür dankbar. Gott dankbar. Für sie ist gute Lebensqualität ein Geschenk, zu dem man einiges beitragen kann, das aber ein unverdientes Geschenk bleibt.
Zukunftspläne
Vorwärts schauen ist immer wieder wichtig. Planen und offen sein für das, was noch kommt. «Ich werde wohl früher als gesunde Menschen nicht mehr in der Lage sein, alleine zu leben. Deshalb muss ich mir überlegen, welche Wohnform im Alter zu mir passt.» Es wird wohl eine Wohngemeinschaft sein, wo natürliche Hilfe möglich ist. Aber noch ist die kleine Kathrin voller Tatendrang.
Es zieht sie wieder hinaus in die weite Welt. Zurück auf die Philippinen. Dort möchte sie Menschen helfen. Ihre sozialen und ihre theologischen Fähigkeiten und Erfahrungen für ihre Mitmenschen einsetzen. Einen Auftrag an den Ärmsten ausführen. Zeigen, dass sich das Leben lohnt. Für kleine Menschen, für kranke Menschen, für arme Menschen, für alle Menschen.
«Gott alles zutrauen»
Es wird eine Herausforderung werden. Die Menschen werden ihr nachschauen, sie umringen, sie betasten, sie auslachen. In der Grossstadt gibt es die Vertrautheit des Dorfes nicht. Man ist immer wieder von neuen Menschen umgeben. Man muss sich behaupten. Mutig den Weg gehen, den man eingeschlagen hat und nicht bitter werden. Kathrin bringt ein ganzes Bündel Lebenserfahrung mit und ihr fröhliches Lachen. Aber sie weiss, einfach wird es nicht werden. Wie lautet doch ihr Credo? Ich und Jesus. Jesus und ich! Zusammen sind wir stark. Ohne ihr Gottvertrauen hätte Kathrin wohl vieles nicht gewagt und auch nicht gemeistert. «Ich will immer wieder neu lernen, Gott alles zuzutrauen. Mit mir und meinen Mitmenschen sanfter umzugehen und meine Hände auszustrecken nach Gott.»
Diesen Artikel hat uns TextLive zur Verfügung gestellt.
Quelle: Textlive
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