Seit 30 Jahren unabhängig
«Ein grosser Schatz geht verloren»
Am 21. September feiert die älteste christliche Nation der Welt 30 Jahre Unabhängigkeit: Nach dem Zerfall der Sowjetunion steht Armenien wieder auf eigenen Beinen. Livenet unterhielt sich mit zwei Zeitzeugen aus der Zentralschweiz.
«Armenien war das erste christliche Land der Welt, es nahm im Jahr 301 den christlichen Glauben als Staatsreligion an», gibt Agnes Büttler-Avagyan einen Überblick. In Jerewan geboren, arbeitete sie einst in Armenien als politische Karikaturistin und in der Schweiz nun als Live-Zeichnerin und Atelier-Künstlerin.
«Wir waren später 73 Jahre Teil der Sowjetunion und des Kommunismus. Danach erhielten wir unsere Unabhängigkeit. Durch eine friedliche Revolution haben wir unsere Demokratie vor drei Jahren erhalten», erinnert sich Agnes Büttler-Avagyan.
Dunkle Wolken – kollektives Trauma
Vor einem Jahr ereignete sich der Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan. «Das dauerte 44 Tage, viele junge Menschen starben. Der Schock war, dass wir alleine stehen gelassen wurden. Von den Menschenrechtsorganisationen und all den schönen Organisationen, bei denen wir seit 30 Jahren mitmachen, erhielten wir keinen Schutz. Auch die Aufmerksamkeit der Weltmedien war klein, das Volk hat sich alleingelassen gefühlt.»
Der Alltag funktioniere im Land. «Man sieht Geburtstagsfeste, das Leben läuft weiter. Wenn man aber mit jemandem spricht, gibt es niemanden, der nicht vom Krieg betroffen wäre. Alle haben jemanden aus der Verwandtschaft im Krieg verloren.»Die Armenier haben eine starke Identität im Christentum. «Armenier sein heisst christlich sein. Für uns war traumatisch-traurig, dass ganz alte Kirchen – einige er ältesten der Welt, die von Armeniern erbaut wurden – in der Region Karabach, dort wo wir Land verloren haben, jetzt zu Aserbaidschan gehören, einer muslimischen Nation.»
«Zerstörung von Kulturgütern hatten islamistische Züge»
Agnes Büttler-Avagyan: «Gezielt zerstören sie diese alten, christlichen Spuren, selbst wenn nicht die ganze Kirche zerstört wird, dann werden zumindest die armenischen Spuren ausgelöscht. Zum Teil werden auch die Hinweise zerstört, dass es sich um eine christliche Stätte handelte. Manchmal zirkulieren auch Videos, in denen gezeigt wird, wie lachende Menschen Kreuze zerstören. Das ist sehr, sehr traurig.»
«Für die islamische Welt ist Aserbaidschan relativ säkular», erklärt ihr Ehemann Dave Büttler, Katechet und Religionspädagoge in der Katholischen Kirche. «Das islamische Brudervolk sind die Türken, unter Erdogan fand eine grosse Islamisierung statt. Erwiesen ist, dass tausende Islamisten aus dem syrischen Bürgerkrieg in Karabach kämpften, teils von den Türken finanziert. Es gab Videos von Leuten, die 'Allahu akbar' riefen, auf Kirchen standen und die Dinge kaputtschlugen. Die Zerstörung der Kulturgüter hatte islamistische Züge. Es handelt sich auch um einen Ethnozid. Und da das christliche auch armenisch ist, wird vieles davon ausgelöscht.»
Geschichte wird neu geschrieben
«Aserbaidschan schreibt die Geschichte neu und bezeichnet sich als ältestes Volk der Region», beobachtet Agnes Büttler-Avagyan. «Die Frau von Diktator Alijew ist Sonderbotschafterin für Denkmalschutz in der UNESCO.»
Durch das Öl ist sehr viel Geld vorhanden. Dave Büttler: «An der Humboldt-Universität in Deutschland wird ein Lehrstuhl namens 'Geschichte Aserbaidschans' finanziert.» Da würden Artikel publiziert, die Aserbaidschan in ein einseitig gutes Licht rücken.
«Hoffnung im Blut»
«Es ist aber auch Hoffnung vorhanden. Armenien verfügt über eine dynamische Jugend, die auch IT-Affin ist und durch die Diaspora vernetzt denkt.» Politisch sei die Wertegesellschaft Europa tot. «Während dem Karabach-Krieg wurde die Pipeline zu Aserbaidschan eröffnet.»
Wichtig sei, dass auf Aserbaidschan wegen den Kulturgütern Druck ausgeübt wird. «Es sind wertvolle Schätze die verloren gehen. Armenien wurde vom Westen oft enttäuscht, auch während des Genozids.»
Europa müsse aufpassen, weil das Christentum keine westliche Religion sei. «Dort wo es seine Ursprünge hat, ist die Zahl der Christen massiv am Sinken.» Nun gelte es aufzupassen, dass die letzten Bastionen Armenien und Georgien nicht auch noch fallen. Doch eines ist klar, so Agnes Büttler-Avagyan: «Wir haben die Hoffnung im Blut.»
Weitere Infos:
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet
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