Schwere Tage in Jerusalem
«Es laufen gegenwärtig zwei Kriege»
Gerade verfasst der in Israel aufgewachsene Autor und Israel-Reiseleiter Assaf Zeevi sein zweites Buch über den anhaltenden Konflikt. Gegenwärtig sind nach seiner Einschätzung zwei Kriege zu verzeichnen. Vor allem der eine zeige, dass auch die vierte Generation seit der Staatsgründung 1948 sich mit Israels Existenz schwer tut.
«Es nimmt mich emotionell und intellektuell ganz rein, ich bin unfreiwillig reingesogen, es betrifft mich sehr», gewährt Autor und Israel-Reiseleiter Assaf Zeevi einen Einblick in seine Gefühle. «Man macht sich sorgen um die Freunde und Verwandten, um das eigene Haus und um die Zukunft. Als es entflammt war, konnte ich eine Nacht nicht vom Fernseher weg, ich bin erst um sieben Uhr am Morgen ins Bett gegangen.»
Vieles habe sich angestaut. «Seit der Gründung der Palästinensischen Autonomie-Behörde sollten im Mai nun zum zweiten Mal Wahlen stattfinden. 1996 und 2006 waren die bisher einzigen, mit dem Sieg der Hamas gingen die letzten Wahlen schlecht aus. In Israel hörte man nun immer wieder, dass es nicht denkbar ist, dass die Wahlen 2021 durchgeführt werden. Palästinensische Freunde sagten immer, dass es keine geben würde. Mahmud Abbas wusste, dass die Hamas mit Abstand auch in seinem Gebiet in Judäa und Samaria siegen würde», erklärt Assaf Zeevi.
Steinwürfe und Verhaftungen
«Die Hamas wählte nun Jerusalem als Anlass.» In Jerusalem ist die Ramadan-Zeit ohnehin stets heikel, durch die religiösen Predigten, die die Jungen täglich hören. «Es gibt immer Gewalt-Ausbrüche in der Ramadan-Zeit. Eine Gruppe von Extremisten warfen diesmal Steine auf eine Verkehrsstrasse unterhalb des Tempelbergs.» So dass die Polizei aus ihrer Sicht sagte, sie habe keine andere Wahl mehr. «Sie nahm Menschen fest, inklusive in der Al-Aksa-Mosche. Das ist sehr selten und wird als letztes Mittel eingesetzt, seit der Staatsgründung kann man dieses Vorgehen an einer Hand abzählen.»
«Für die Festnahmen wurden auch Blendgranaten eingesetzt. Diese Bilder von durch israelische Polizisten in die Moschee geworfene Blendgranaten, lösten sehr viele Emotionen aus.» Die Gründe aber liegen viel, viel tiefer. «Eine wichtige Rolle spielt ein Rechtsstreit in einem Stadtteil in Jerusalem. Technisch gesehen ist es eine Vermieter-Mieter-Schutzfrage. Weil es aber arabisch–jüdisch ist, geht es um viel mehr. In Jerusalem hat es eine grosse Symbolkraft, wenn ein israelische Gericht – auch wenn es von der Ausgangslage her gar nicht anders bestimmen kann – beschliesst, dass eine palästinensische Familie gehen muss und danach eine jüdische mietet Und die Juden, die dort einziehen, sind in der Tat politisch motivierte Nationalisten. Eine normale Familie zieht nicht in ein arabisches Quartier einfach so ein – erst recht nicht, wenn es so umstritten ist. Das löst Zorn aus und vermittelt vielen das Gefühl, dass die Nakba, das heisst die Katastrophe, die die Palästinenser durch Israels Gründung erlebt haben, auch heute noch weitergeht. Letzten Endes wäre es die Aufgabe der Politik, einzugreifen, besonders in diesem so empfindlichen Fall. Stattdessen unterstützt die Regierung den Einzug von Juden ins arabische Quartier, indem sie ihnen Sicherheitspersonal finanzieren. Aus der Perspektive kann ich den arabischen Frust verstehen.
«Es sind zwei parallel laufende Kriege»
Mehr als 1'800 Raketen wurden bislang abgefeuert. «Durch meine Beobachtungen am ersten Abend stellte ich fest, dass zwei Kriege parallel laufen. Der eine ist der altbekannte, der sich in regelmässigem Zyklus wiederholt. Raketen kommen aus Gaza, man geht militärisch dagegen an. Die Hamas hat in den letzten sieben Jahren neue Technologien erreicht, die eine zu grosse Gefahr geworden sind, sodass das Militär auf die Gelegenheit gewartet hat, bestimmte Infrastrukturen der Hamas anzugreifen
Israel hat die «Metro», wie das Tunnel-System des militanten Arms der Hamas in Gaza genannt wird, in kurzer Zeit zerstört. «Wenn dieser Krieg länger als zehn Tage dauert, wird die israelische Öffentlichkeit überrascht sein.»
Bis eine politische Regelung erreicht wird, «wird sich diese Entflammung alle fünf bis sieben Jahre wiederholen. Ich habe die App auch und schaue mir an, wo die Einschläge sind. Wir haben selbst ein Haus in Israel und wir haben kein Interesse an einer Hausrenovation. Doch es sind Sachschäden und es gibt Verunsicherungen. Dies ist nicht so beunruhigend. Und mir ist ganz klar, dass die Menschen in Gaza sehr viel mehr leiden als in Israel. Tote Zivilisten in Gaza sind für mich eine Tragödie und die verheerenden Schäden dort machen deutlich, dass Israel vielfach stärker ist.
Erinnerung an Pogrome
Der andere Krieg, der parallel läuft, macht Assaf Zeevi viel mehr Mühe. «Es ist die Gewalt, die in der Gesellschaft ausgebrochen ist, vor allem aus der arabischen.» Inzwischen sind nächtliche Gewaltausbrüche zu verzeichnen, besonders in jüdisch-arabisch gemischten Städten wie Lod beim Flughafen. Sie wohnen nicht nur in eigenen Vierteln sondern auch in den gleichen Blöcken, Tür an Tür, sie gehen in die gleichen Kindergärten.»
Nun ziehen vermummte arabische Jugendliche mit Äxten und Knüppeln nachts durch die Strassen und greifen alles jüdische an. «Sie suchen nach Dingen, die Juden gehören und verbrannten bereits 30 Autos. Oder sie werfen Molotow-Cocktails in jüdische Wohnungen. Das kannten wir so nicht. Einzig in den Jahren 1920 bis 21, 1929 und 1936 bis 1939 erlebten wir dies. Das wirft uns 100 Jahre zurück. Das zieht den Boden unter den Füssen weg. Es sind Mitbürger, nicht Palästinenser aus Gaza.»
Die Wurzeln des Konflikts
Dies zeige klar die Wurzel des Konflikts. «Juden werden aus ihren Autos gezogen, nur durch ein Wunder gibt es so wenige Tote.» Den Juden werde Rassismus und Benachteiligung vorgeworfen. «In ihren Augen hat Israel keine Legitimationen. Die junge arabische Tik-Tok-Generation will die Sprache nicht, die Flagge nicht und so weiter.»
Von einer dritten Intifada spricht Assaf Zeevi lieber nicht. Denn: «Es ist schon so weit, man nennt es nur nicht so. 1987 tauchte das Wort auf und später wurde es noch einmal so genannt. Aber es gibt immer wieder solche Umstände. Die Intifada ist ein Trauma für beide Seiten, wenige sind stolz darauf. Man wird es nun wohl einfach nicht so nennen. Wir hatten gute Beziehungen. Vor fünf Tagen hätte noch jeder gesagt, dass wir gute Beziehungen haben. Was nun zerstört worden ist, braucht Jahre, bis es repariert ist. Es ist ein Vertrauensbruch, es ist ein Erdbeben.»
Dauer ist unwesentlich
Wie lange dies nun dauert, sei unwesentlich. «Der Ausbruch Bürger gegen Bürger kam von jungen Arabern zwischen 12 und 22 Jahren und geschieht jede Nacht. Es wird ein krampfhafter Versuch in Medien gemacht – auch in Israel – von einer Symmetrie zu reden. Mit Wörtern wie 'auf beiden Seiten'. Das geht am Punkt vorbei, es kommt klar unvorbereitet, überraschend von arabischer Seite. Aber lange warten und schauen die jüdischen Jugendlichen nicht zu. Sie wollen sich rächen und so sind zwei Tage nach Ausbruch zwei arabische Autofahrer und ein arabischer Eigentümer nahezu tödlich angegriffen worden. Das kann immer wo weiter gehen. Statistisch kommen auf einen jüdischen Angriff zehn von arabischer Seite.»
Nicht mehr in der Opposition sitzen
Demnächst kommt der Tag danach, wo der Russ an der Wand angeschaut wird und dann neu gestrichen wird. «Dann müssen wir wieder zueinander finden, gerade auch die Jugendlichen, junge Männer, die sich für den Weg der Krawalle entschieden haben.»
Das braucht Zeit. Gleichzeitig wurde in den letzten Jahren ein interessanter Prozess beobachtet. «Die arabische Bevölkerung will in der Knesseth nicht mehr nur in der Opposition sitzen, weil sie nicht im Judenstaat regieren will. Eine Partei die mitregieren will, ist nun mit Erfolg ins Parlament gestiegen. Das ist eine gute Entwicklung, weil die Aussenseiter-Rolle geringer wird, diese Tendenz müsste weiter gestärkt werden.»
Die ganz grosse Lösung gebe es nicht. «Die Erwartungen müssen runtergeschraubt werden und eine Realität muss entstehen, in der man sich versteht und akzeptiert. Bis das Existenzrecht da ist, kann es noch 100 Jahre dauern, denn jetzt haben wir die vierte Generation seit 1948 …»
Iran eint
Der Iran – der die Hamas nach Möglichkeit hochrüstet – will mehr Einfluss in der gesamten Region haben, «sein Ziel ist es, Israels Existenz rückgängig zu machen, seit der Islamischen Revolution 1979 hat er den jüdischen Staat nie akzeptiert.»
Der persische Feind eint dadurch freilich Araber und Juden. «Aktuell spielt der Iran keine Rolle, er hätte es gerne, tut er aber nicht.» Die Normalisierung mit arabischen Staaten ist ein Segen. «Wir werden immer mehr akzeptiert.»
Hamas
als Hüter Jerusalems
In diesen Tagen versucht sich die Hamas ein Profil «als Jerusalems Verteidiger zu schaffen», so Zeevi weiter. «Die Hamas versucht, sich als Gegner der Palästinensischen Autonomie-Behörde zu profilieren, die von der Fatah regiert wird. Sie will zeigen, dass die Behörde die Palästinenser im Stich gelassen hat und sie die wahren Beschützer des Islam sind und jene, die den Nationalstolz verteidigen.»
Die Hamas war selbst überrascht, dass sie es geschafft hat, einen Keil zwischen die israelischen Araber und Juden zu treiben. «Was in den letzten 70 Jahren mühsam aufgebaut worden ist, ging nun in kürzester Zeit den Bach hinunter. Sie säen Hass zwischen uns, sie dachten nicht, dass es so einfach ist.»
Livenet-Talk vom 12. Mai 2021:
Zur Situation in Israel führte Livenet-Redaktionsleiter Florian Wüthrich am letzten Mittwoch ein Gespräch mit den Nahost-Kennern Faustus und Adrian Furrer durch:
Zur Webseite:
Assaf Zeevi
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet
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