Christen im Irak
«Der Westen lässt uns alleine – Gott nicht!»
Der Nahost-Projektleiter des Hilfswerks «HMK Hilfe für Mensch und Kirche» mit Sitz in Thun ist soeben aus dem Irak zurückgekehrt. Gegenüber «Livenet» berichtet er von seinen Erlebnissen und der Situation der Flüchtlinge vor Ort.
M. Schwab: Ich habe unsere Nothilfeprojekte und unsere lokalen Teams im kurdisch kontrollierten Norden Iraks besucht. Das heisst ich war in den Orten Erbil, Dohuk, Zakho, Kalak und in den umliegenden Dörfern.
Wie war der IS bemerkbar?
Einige Flüchtlingsnotunterkünfte liegen nahe an der Frontlinie, nur hinter den Hügeln. Die Strassen dahin waren blockiert und die Menschen in den Dörfern an der Frontlinie waren in Sorge, dass IS sie beschiessen könnte oder sie bei einem neuen Angriff gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen.
Die Angst vor dem IS und die Traumata derjenigen, die ihre Brutalität mit eigenen Augen ansehen mussten, ist unter den Flüchtlingen allgegenwärtig.
Wie leben die Menschen in der Gegend, die Sie besuchten?
Überall trifft man Flüchtlinge, es sind meist Christen aus Mosul und Karakosch, dazu viele Jesiden aus Sindschar. Zu Tausenden haben sie Unterschlupf in öffentlichen Schulen, Zeltstädten, in Parks, leerstehenden Rohbauten oder auf der Strasse gefunden. Es fehlt überall an Unterkünften.
Erschwerend kommt hinzu, dass in diesen Tagen Zigtausende Flüchtlinge die Schulen wieder verlassen müssen, weil in den kurdisch-autonomen Gebieten die Schule wieder beginnt.
Leider gibt es noch nicht genügend Zeltstädte, die diese Menschen aufnehmen könnten und angesichts des bevorstehenden Winters wird es zunehmend kälter und es gibt immer mehr Regen. Die Flüchtlinge äusserten grosse Sorge. Sie frieren nachts, haben keine warmen Decken und es fehlt an warmen Kleidern. In Erbil sind sie zumeist mit Essen ausreichend versorgt, aber ausserhalb der Hauptstadt fehlt es an allem Lebensnotwendigen.
Wie leben die Christen vor Ort?
Tausende von Christen aus Mosul, Karakosch und der Ninive-Provinz leben zurzeit in notdürftigen Flüchtlingsunterkünften und haben nur diejenigen Kleider, die sie tragen. Sie wollen so schnell wie möglich wieder zurück in ihre Heimatdörfer, wo sie alles zurücklassen mussten: Ihre Häuser, Geschäfte, Werkstätten und Landwirtschaft. Sie haben ihre ganze Existenz verloren.
Wie schauen die Christen dort in die Zukunft?
Was die lokalen Kräfte angeht, haben die Christen kaum noch Hoffnung, aber sie hoffen immer noch auf ein Eingreifen und Schutz von aussen. Doch es gibt auch viele, die nur noch weg wollen, in den Westen, um ihrer Kinder willen. Eine Frau sagte: «Unsere Generation hat ihre Zukunft verloren, aber helft uns, dass wenigstens unsere Kinder eine Zukunft bekommen.»
Halten die Christen trotz der Lage an Gott fest?
Ja, ich habe niemanden getroffen, der seinen christlichen Glauben in Frage gestellt hätte. Sie sind stolz, irakische Christen zu sein und nicht wenige haben demonstrativ auf ihre Zelte bewusst ein Kreuz montiert und sagen: «Viele Menschen haben uns enttäuscht und lassen uns alleine, auch ihr im Westen, aber Gott nicht. Wir sind und bleiben Christen – wie unsere Vorfahren.»
Sehen die Christen eine Hoffnung?
Ja die Christen haben ihre Hoffnung noch nicht verloren und viele möchten sobald als möglich wieder in ihre Heimat zurück. Doch je länger die internationale Gemeinschaft abwartet und weder eine baldige Möglichkeit zur Rückkehr noch internationale Schutzmassnahmen in Sicht sind, verlieren die Flüchtlinge zunehmend die Hoffnung und wollen nur noch weg. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Christen vor Ort und als internationale Gemeinschaft Hoffnung vermitteln und ihnen jetzt zur Seite stehen.
Was tut die HMK?
In einer Allianz mit unseren lokalen Partnern helfen wir zurzeit 18'000 Flüchtlingen. Je nach Notlage erhalten sie Essenspakete, Baby- und Kindernahrung, Kleider, Wasch- und Hygieneartikel, Decken, Matratzen, Zeltmaterial und Unterkünfte. Die Hilfe leisten wir unabhängig von Religion und Herkunft. Wir helfen Christen, Jesiden, Kakai und anderen verfolgten Minderheiten. Unsere Projektpartner verfügen über Verbindungen zu all diesen religiösen Minderheiten und haben so besten Zugang zu ihnen und stossen auf Verständnis.
Unsere lokalen Partner und Gemeinden, die vor der aktuellen Krise teilweise diskriminiert wurden, werden durch die Nothilfeprojekte gestärkt und gewinnen an Glaubwürdigkeit. Die meisten Flüchtlinge sind sehr dankbar und nicht wenige haben gedankt für die «Solidarität der Christen aus der Schweiz» und «den Hoffnungsschimmer». Ich habe gestaunt darüber, dass es in den Lagern nur wenige Verzagte gibt, ja es war sogar beschämend, wie freundlich wir empfangen wurden und wie uns die Flüchtlinge sogar in den einfachsten Zelten gastfreundlich willkommen geheissen haben.
Was können wir tun?
Das Gebet ist zentral. Die irakischen Christen bitten uns im Westen darum, für sie im Gebet einzustehen. Natürlich kann unsere Flüchtlingsarbeit finanziell unterstützt werden aber es ist auch wichtig, den Verfolgten hier bei uns in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, zum Beispiel an Solidaritätskundgebungen. Politiker stehen in der Verantwortung, sich für den Schutz religiöser Minderheiten einzusetzen. Und auch die Medien haben eine Verantwortung, die Öffentlichkeit diesbezüglich zu sensibilisieren.
Jeder persönlich ist dazu aufgefordert, etwas zu tun, sei es im persönlichen Gespräch, mit Leserbriefen, in sozialen Medien oder bei öffentlichen Debatten. Jegliche Form von religiös motiviertem Dschihadismus muss international geächtet, bekämpft und zur Verantwortung gezogen werden. Es gilt, sich dafür einzusetzen, dass religiöse Minderheiten – gerade auch im Nahen Osten – besser geschützt werden. In ihrer eigenen Heimat wird ihnen die Daseinsberechtigung zunehmend entzogen. Das kann und darf uns nicht gleichgültig sein.
Wissen Sie von einem IS-Kämpfer, der Christ wurde?
Nein.
Zur Webseite:
HMK Schweiz
HMK bei Facebook
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet
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