Christliche Schweiz?

Kirchen und die Megatrends

Wenn die christliche Prägung des Landes sich weiter auflöst, was dann? Am Leiterforum der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA in Männedorf stellten sich letzte Woche Freikirchenverantwortliche, Reformierte und Werkleiter den schmerzhaften Entwicklungen. Patentrezepte gibt es keine.
Hat es eine christliche Schweiz gegeben? Zu Beginn des Forums am 16. Dezember begrüsste SEA-Zentralsekretär Hansjörg Leutwyler den reformierten Kirchenhistoriker und Autor Armin Sierszyn. Dieser bejahte die Frage mit Streiflichtern auf die Christianisierung in der Antike, die Klöster im Mittelalter und die zur Bibel führende Bewegung der Reformation. Zu den geschichtlichen Tatsachen stellte Sierszyn weiterbestehende Zeichen der Bindung ans Christentum. Über der Schweizer Bundesverfassung steht – obwohl politisch umstritten – «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Auch das Schweizer Kreuz sei ein starkes Zeichen.

Abschied vom Gott der Väter

Nach 1600 kam es allerdings, so Sierszyn zu einer fundamentalen Wende im europäischen Bewusstsein. Für die sichtbare Welt wurde die Naturwissenschaft zuständig. Schon um 1800 habe sich die Bildungselite vom traditionellen Glauben ausgeklinkt; das Volk sei weiter mitgeschwommen, doch Arbeiter hätten sich der Kirche bald entfremdet. Bestimmend für die letzten Jahrzehnte wurde die 68er-Bewegung. Sie habe mit ihrem Kampf gegen die christliche Ehe und Familie und gegen die Institutionen eine kulturelle Revolution ausgelöst, «einen Sturm, der bis heute anhält». Ziel sei das selbstbestimmte Leben in einer Lust- und Spasskultur.

Bei christlichem Restbewusstsein anknüpfen

Die heutigen sozialen Probleme führt Sierszyn auf diese Bewegung zurück. So habe man begonnen, zwischen guter und böser Gewalt zu unterscheiden. Der Referent konstatierte eine «gesellschaftliche Depression». Im Volk gebe es jedoch ein christliches Bewusstsein, bei dem die Kirchen anknüpfen könnten. Da die Ideale der 68er Kultur versagten, bestehe nun die Chance, die Herzen und Köpfe der Menschen mit dem Wort der Bibel, dem Geist Gottes zu erfüllen. Armin Sierszyn forderte die Anwesenden auf, um Einigkeit unter den Christen und erwecklichen «Südwind» zu bitten. Das Leben sollten Christen wieder neu verstehen als Dienst an Gott und «Ewigkeit finden als Heimatboden für unsere Seele, dass wir frei werden vom Haschen nach mehr, vom Glauben an die Allmacht der Ökonomie.»

Kein Grund für die Glorifizierung der Nation

Was prägt Christen in der Schweiz heute? In Freikirchen stehen sie laut dem Vorsitzenden der Pfingstmission und des Freikirchenverbands VFG, Max Schläpfer, in der Gefahr, sich der Umgebung anzugleichen. Er konstatierte in seinem Vortrag am 17. Dezember zum einen Pluralismus, Individualismus und Hedonismus, zweitens einen starken Einfluss der Medien. Diese brächten ihre Konsumenten dazu, «nicht mehr nach grösseren Zusammenhängen zu fragen». Doch für mündiges Christsein sei ein zusammenhängendes Verständnis dessen vonnöten, was die Bibel lehrt.

Zudem warnte der VFG-Präsident vor einer «aufkeimenden nationalreligiösen Tendenz». Nationale und Glaubensidentität dürften nicht verbunden werden. «Eine Nation als besonders von Gott gesegnet zu sehen und Aktivitäten zu empfehlen, die den Segen verlängern sollen, ist gefährlich.» Das Reich Gottes durchdringe alle Völker und Nationen. Schläpfer legte den 50 Anwesenden nahe, dass Christen konzentriert und unauffällig arbeiten und sich wie Jesus um einzelne Menschen kümmern. Es gelte, das Evangelium substantiell und ohne theologische Engführungen zu verkündigen, im «Ringen, dass Gott jetzt ein Wort gibt für Menschen».

Zusammen Räume des Lebens gestalten

Zu den Zukunftsaussichten referierten am Freitagnachmittag Markus Müller, Direktor der Pilgermission St. Chrischona, und der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz. Müller plädierte dafür, in Europa Chancen zu sehen und wahrzunehmen und sich nicht von beängstigenden Entwicklungen entmutigen zu lassen. Der Zerfall von Gewissheiten in Hauptbereichen des Lebens verunsichere die Menschen: in der Ehe (seit 1968), in der Arbeitswelt, in Religion und Staat.

Markus Müller regte an, Fragen der Identität zu bewegen. Christliche Richtigkeiten genügten im 21. Jahrhundert nicht mehr; Kulturräume und Milieus seien zu gestalten. Dafür sei das christliche Erbe, das Europa kenne, zu aktualisieren: Wahrheit und Barmherzigkeit, versöhnte Vielfalt, die Hochschätzung der Bildung und Gastfreundschaft. Müller schlug Denkwerkstätten und Schulterschlüsse von Christen vor «angesichts der zentrifugalen Kräfte und der Dynamik des Auseinandergehens». 

Trends wirken auch auf Freikirchen

Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Uni Lausanne, stellte gesellschaftliche Megatrends und kirchliche Reaktionen einander gegenüber. Die Reformierten sprechen bestimmte Milieus an; die PfarrerInnen unterscheiden sich vom Kirchenvolk. «Die reformierte Kirche hat häufig SP-Positionen. Für manche Kirchgänger ist das schwierig, da sie diese nicht teilen.» Weiterhin hoffen Gottesdienstbesucher, Kraft zu schöpfen und Gemeinschaft zu erfahren.

An der stark gesunkenen Zahl der Trauungen wird die Entkirchlichung der Schweizer Bevölkerung besonders deutlich. Laut Jörg Stolz wirken die Trends auch auf Freikirchen. «Der Kirchgang ist teils hoch geblieben. Aber die Normen ändern.» Die Aussage, dass ein richtiger Christ regelmässig zur Kirche geht, wird nach einer noch unveröffentlichten Umfrage noch von 68% der charismatischen Freikirchler und 47% der Angehörigen traditioneller Freikirchen bejaht – Tendenz sinkend.
«Die Zukunft der Reformierten» (so der Titel des Buchs von Stolz) ist offen, wenn die Kirchen kleiner und ärmer werden. Der Soziologe äusserte, die Reformierten könnten stärker zielgruppenorientiert arbeiten; dies könne zum Wachstum von Kerngemeinden führen. Das Verhältnis zwischen Reformierten und Freikirchen werde nicht als grosses Problem wahrgenommen – «aber auch nicht als Potenzial».
 

Datum: 21.12.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet

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