Christen in Indien

Transformation für die Armen

Die Christen Indiens haben Wesentliches zur sozialen Transformation und zur Armutsbekämpfung beizutragen. Im Gespräch mit Livenet.ch nennt Richard Howell, Leiter des evangelischen Dachverbands EFI, auch die Hürden, denen sich aktive Christen gegenübersehen.

Transformation ist viel mehr als wirtschaftliche Entwicklung. Wenn Arme es durch harte Arbeit zu etwas bringen und sich dann statt lokalem Branntwein Whisky, statt Glimmstengeln Filterzigaretten leisten, ist das für Richard Howell nicht die gewünschte Transformation. «Die Kirche wirkt in der Gesellschaft, um die Werte zu transformieren», betont Howell, als Generalsekretär der Evangelical Fellowship of India (EFI) einer der führenden Vertreter der indischen Kirchen.

Es mache nicht Sinn, dass bei zunehmendem Wohlstand schlechte Verhaltensweisen fortdauern. «Um gleiche Chancen geht es, den Kampf gegen die Benachteiligung von Frauen, die Förderung von Kindern und die Bewahrung der Schöpfung.» Mit diesem umfassenden Ansatz punkten Christen auch in der indischen Zivilgesellschaft, in der die Bedeutung von Werten für den gesellschaftlichen Wandel anerkannt wird.

Dalits und Tribals

Dalits (Kastenlose) stellen fast 70 Prozent der Kirche in Indien; im Norden des Landes ist ihr Anteil noch höher. Die Kirchen bestehen auf dem Land in aller Regel aus Unterschicht-Gemeinden. Laut Richard Howell haben sich Dalits, die Christen wurden, Bildung angeeignet, sich erstaunlich entwickelt und vielfach ausgezeichnet. Im Unterschied zum Hindu-Kernland haben sich viele Volksgruppen (Tribes, Stämme) der Gliedstaaten im Nordosten, in der Nachbarschaft von Bangladesch und Birma, dem Christentum zugewandt. Aus diesem Grund stellen Tribals einen nicht unbedeutenden Teil der christlichen Minderheit, die nach der letzten Volkszählung 2,4 Prozent der Gesamtbevölkerung betrug.

Diskriminiert durch Religionswechsel

Wenn ein Dalit Christ wird, verliert er den Anspruch auf Ausbildungs- und Arbeitsplätze, den das staatliche indische Quotensystem den Dalits gibt. Bei den Tribals kommt es auf die Religion nicht an; sie fallen nicht aus der Quote, wenn sie Christen werden. Richard Howell: «Dies sollte auch für Dalits der Fall sein; es braucht eine Quote für Dalit-Christen. Bisher werden sie sozial und wirtschaftlich diskriminiert. Warum sollte ein Hindu-Dalit besser behandelt werden als ein christlicher Dalit? Aufgrund der Religion darf nicht diskriminiert werden.» Die Christen Indiens hoffen darauf, dass das Oberste Gericht christlichen Dalits eine eigene Quote zuspricht. Laut Howell stehen die Kirchen Indiens (mehr oder weniger) einmütig hinter dieser Forderung.

Von den Überzeugungen zur Praxis

Wo liegen die Herausforderungen für die Kirche in Indien? «In der Nachfolge. Die Kirche ist zum Leben in der Nachfolge von Jesus zu erziehen; sie braucht eine christliche Weltsicht und Mentalität, um den Glauben zu praktizieren. Zu den Glaubensüberzeugungen muss das entsprechende Verhalten kommen.»

Richard Howell zitiert die Bibel. Christen sollen ihre Feinde lieben und für ihre Verfolger beten. «Die Kirche hat in Versöhnungsbemühungen an vorderster Front zu stehen. Sie tut es auch in der indischen Gesellschaft, die so schrecklich zerklüftet ist. Zweitens spielt die Kirche eine führende Rolle in der Transformation von Gemeinschaften. Sie schliesst die Armen ein, so dass sie die Werte, nach denen sie leben, umbilden.»

Enorme Herausforderungen

Nach wie vor leben die Inder mehrheitlich in Dörfern. Wie kann eine gute Schulbildung da vermittelt werden? Fast 300 Millionen leben noch immer unter der Armutsgrenze, haben weniger als einen Franken pro Tag zur Verfügung. «Einerseits entwickelt sich Indien rasch und die Mittelschicht wächst – anderseits besteht eine enorme Kluft zwischen Reich und Arm.» Seit 1990 sind auch städtische Gemeinden mit Christen der Mittelklasse.

EFI – die Stimme der Evangelischen

Die Evangelical Fellowship of India EFI wurde 1951 gegründet, zur Vernetzung und gegenseitigen Stärkung von evangelischen Gemeinden und Werken. Howell untertreibt, wenn er EFI als «eine Stimme der evangelischen Kirche in Indien» bezeichnet. Denn über 300 bedeutende Gemeindeverbände im Riesenland gehören EFI an; neue Kirchen kommen laufend hinzu. «EFI verbindet Menschen, dass sie aufgrund einer gemeinsamen Vision miteinander handeln, als Allianz von Einzelnen, Kirchen und Missionswerken, die sich verpflichtet haben, Indien zur Nachfolge Jesu zu bringen.» EFI gehört zur Asiatischen Evangelischen Allianz, die Howell vor Jahren zu ihrem Vorsitzenden gewählt hat.
Neben regionaler und überregionaler Vernetzung stehen in Indien Schulungsangebote im Vordergrund. «Und in diesen Zeiten der Verfolgung sind wir eine Stimme der Verfolgten: Wir geben Mitteilungen heraus und setzen uns im In- und Ausland für die Verfolgten ein. Der allerletzte Christ in Indien soll wissen, dass er nicht allein ist – wir wollen ihm in der Verfolgung Gehör verschaffen.»

Leiter schulen, Sozialarbeit fördern

Die anhaltende Herausforderung erblickt Howell darin, die Gemeinden zu ermächtigen, den Menschen zu dienen und auf die Transformation von Gemeinschaften hinzuwirken. Die Leiterschulung ist zu forcieren und Literatur bereitzustellen. EFI hat ein nationales Netzwerk für die Transformation von Städten. Christen werden herausgefordert, nicht im Konsumentenstrom mitzuschwimmen, sondern «Salz und Licht» zu sein, etwa Obdachlosen und Strassenkindern zu dienen. «Noch immer wachsen Slums: In Delhi leben fast 30 Prozent aller Einwohner in Slums, in Mumbai fast 60 Prozent!» Der Kampf für Hygiene und gegen den Analphabetismus ist zu führen.

Das Evangelium für die nächste Generation

Wie attraktiv ist das Christentum für junge Inder? Laut Richard Howell hinterfragen sie Traditionen und Prägungen und gehen neue Wege. Indien habe als junge Nation mit 500 Millionen unter 25 Jahren ein enormes Potential. «Wie sprechen wir, die Kirche, diese Millionen Menschen an, die intelligente Fragen stellen, die nicht areligiös, sondern spirituell offen sind? Der Herausforderung stellen sich die Christen mit dem Evangelium von Christus, das Liebe und Annahme, Befreiung von Schuld und Versöhnung einschliesst.» Mit ihm sieht Howell die Kirche besser als andere gesellschaftliche Kräfte positioniert, jungen Menschen zu helfen, namentlich durch Seelsorge. Für den Umgang mit dem Internet (Pornografie) und Beziehungsproblemen bräuchten sie Rat und Begleitung.

Langjährige Nachbarschaft mit Muslimen

Die Zahl der Muslime in Indien (160+ Millionen) übertrifft die der Christen bei weitem, doch auch sie werden als Minderheit an manchen Orten bedrängt; ein Grossteil lebt in Armut. «In Indien haben Christen und Muslime gute, ja freundschaftliche Beziehungen, auch weil sie und wir Minderheit und verfolgt sind. Darüber hinaus ist im Zusammenleben seit Generationen der Dialog geübt worden. Der Dialog hat uns geholfen, einander zu entdecken. Man respektiert das missionarische Zeugnis der anderen Gemeinschaft und lässt sie frei gewähren. Demokratische Werte sind wichtig für Muslime wie für alle anderen Inder.» Dass Muslime die Dreieinigkeit Gottes als Dreiheit von Gott, Jesus und Maria missverstehen, erweist sich für den Dialog auf dem Subkontinent wie überall als Herausforderung.

Nationaler Verbund der Kirchen

Im «National United Christian Forum» (NUCF) sind die EFI-Kirchen, die 26 Mitglieder des Nationalen Kirchenrats (darunter Church of South India, Church of North India, Mar Thoma-Kirche) und die römisch-katholische Kirche verbunden. Etwa die Hälfte der indischen Christen sind Katholiken; der Kirchenrat vertritt etwa 30 Prozent, EFI etwa 20 Prozent der Christen. Richard Howell amtet als Sekretär des NUCF, das vom katholischen Erzbischof von Delhi,  Vincent Concessao, präsidiert wird. Die Mitgliedkirchen haben sich in einem Memorandum auf die Zusammenarbeit in wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen verständigt.

Durch die Bedrängnis der letzten Jahre sind die Kirchen insgesamt näher zusammengerückt. «Christen in Indien sind viel mehr eins als vor fünf Jahren», betont Howell. «Ein Sinn für Einigkeit und Einheit hat sich im landesweit entwickelt.» Dass alte und neue protestantische Kirchen und die Katholiken sich im NUCF gefunden haben, sei ein unübersehbarer Beleg für diese Entwicklung «und ein Zeugnis für die Welt, dass wir zusammenarbeiten können. Die Bibel ist unser aller Buch.»

Für unbestechliche Politiker beten

In vielen Teilen des Landes fahren Hindu-Nationalisten Hasskampagnen gegen die Christen (dazu mehr morgen im zweiten Teil des Artikels). «Gebet ist der Schlüssel für Indien. Wir müssen zu Gott beten, der der Herr der Geschichte ist. Wir bitten, dass er Indien gnädig ist und eingreift in die Politik, so dass wir gute, unbestechliche Politiker bekommen, die gerecht handeln und Frieden und Versöhnung zwischen den Gemeinschaften fördern. Betet die Kirche für gute Politiker, agiert sie hochpolitisch; davon bin ich überzeugt. Gebet tut Not.»

Webseite:
www.efionline.org

Datum: 28.12.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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