Gewissen muss taugliches Instrument in der Therapie sein
Der erste Hauptreferent der Tagung, der Theologe, Pädagoge und Forscher Reinhold Mokrosch von der Universität Osnabrück, wies auf den Widerspruch hin, der darin bestehe, dass Gewissen und Gewissensentscheidungen im Alltag zwar nach wie vor eine grosse Rolle spielten, nicht aber in der wissenschaftlichen Pädagogik oder in der Therapieforschung. Mokrosch führte das vor allem auf die Perversion des Gewissensbegriffs im Dritten Reich zurück, wo Menschen den "Führer" zu ihrem Gewissen gemacht hätten. Pädagogen fürchteten seither eine normative Didaktik, besonders wenn das Gewissen eine Rolle spielen solle. Heute rede man eher von Moralbildung, bringe diese aber nicht mehr mit dem Gewissen in Zusammenhang. Die Sozialwissenschaft rede von Normenbildung, die Philosophie von moralischen Kodierungen, nicht aber von Gewissen.
"Ich bin ein Gewissen"
Mokrosch betonte den Beziehungscharakter des Gewissen im Sinne von "ich bin ein Gewissen”. Gewissensbildung bezeichnete er als Hilfe bei der Entwicklung des Gewissens, Gewissenserziehung als Hilfe bei Gewissensentscheidung. Der Referent sprach von einer vormenschlichen Instanz, einer Art Ur(existenzial)gewissen im Sinne des Römerbriefs, Kapitel 2. Er machte zum Beispiel die Erfahrung, dass Kinder, die nur mit Werten wie Vergeltung und Kampf aufgewachsen seien, mit 13 Jahren plötzlich die "Entfeindungsliebe” entdeckt hätten.
Das Gewissen müsse schrittweise entwickelt werden. Mokrosch nannte dazu sieben Schritte und nannte das Doppelgebot der Liebe als eine Grundeichung für das Gewissen. Der Gewissensentscheidungsprozess könne durch Wille, Verstand und Vernunft begleitet und so geübt werden. Dabei könnten "Hebammendienste" geleistet werden, die der verantwortlichen Gewissensentscheidung zum Durchbruch verhelfen.
Psychologie muss Eigenverantwortung neu entdecken
Der Psychologe Michael Utsch, Mitarbeiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin, sprach über das Gewissen als psychologisches Phänomen und sagte, die Psychologie schwanke heute zwischen einer Wertung der emotionalen Prägung (Tiefenpsychologie) und der kognitiven Funktion (Entwicklungspsychologie) des Gewissens. Jedenfalls dürfe das Gewissen nicht nur als Hilfe zu einer Werteentwicklung, zur Selbstentfaltung und Selbstoptimierung angesehen werden. Die Psychologie habe generell die Frage der Selbstverantwortung vernachlässigt, und das habe ihr sehr geschadet.
Neuere Richtungen forderten dagegen eine Rückbesinnung auf die persönliche Verantwortung. In den USA sei zum Beispiel ein säkulares Vierphasenprogramm zur Vergebung entwickelt worden. Gewicht legte Utsch auf die Stärkung des Gewissens im Sinne eines "Orientierungswissens" innerhalb der heutigen Multioptionsgesellschaft, in der die "Werte obdachlos geworden" seien. Ausserdem wies er auf den Logotherapeuten Viktor Frankl hin, der die Sinnfindung aufgrund von Werteentwicklung propagiert habe. Sinn sei bei Frankl eine Art "Abfallprodukt eines persönlich stimmigen, gewissensorientierten und wertemotivierten Handelns".
Persönlichkeitsstruktur und Frömmigkeitskultur
Utsch betonte, gut sei ein Gewissen, wenn es lebensdienlich sei. Übersensible Gewissen müssten auch Korrektur erfahren können. Wichtig sei die Abstimmung von Persönlichkeitsstruktur und Frömmigkeitskultur. Frömmigkeit könne Einseitigkeiten verstärken statt sie zu korrigieren, warnte Utsch. Für die Therapie sei jedoch die die Übereinstimmung des Therapeuten mit dem Menschen- und Weltbild des Klienten erfahrungsgemäss sehr hilfreich. Der Einbezug von weltanschaulichen Werten in die Therapie gewinne heute gerade in den USA an Bedeutung.
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Kipa
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