«Medair»-Helfer im Irak
Eine harte Rückkehr in die Heimat
Weniger Menschen als erwartet sind bisher aus dem Nordirak in den Zentralirak zurückgekehrt. Doch sie werden tatkräftig beim Wiederaufbau unterstützt, berichtet «Medair»-Teammitglied Wolfgang Binninger.Wolfgang Binninger, wie erleben
Rückkehrer die Situation im Irak?
Wolfgang Binninger: Weniger
Vertriebene als ursprünglich angenommen haben bisher den Weg «nach Hause», also
in ihre Herkunftsorte, angetreten. Sie leben trotz widriger Umstände in
provisorischen Verhältnissen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Dörfer
und Häuser, aus denen die Menschen flohen, zu einem grossen Teil stark
beschädigt bis komplett zerstört sind. Manchmal steht das Haus noch in seiner
Grundsubstanz, aber Türen und Fenster sind zerstört. Erschwerend kommt hinzu,
dass das Terrain noch nicht von Minen und Blindgängern geräumt ist. Ausserdem
fehlt es vielerorts an grundlegender Infrastruktur: Wasserleitungen,
Sanitäranlagen, Strom. Auch Bildungs- und medizinische Einrichtungen sind
grossflächig zerstört und nicht mehr funktionsfähig. Kalte Nächte und der
bevorstehende Winter erschweren die Lebensbedingungen der Menschen zusätzlich. Angesichts
einer Lebensinvestition, die der Bau eines Hauses bedeutet, sind diese Menschen
als Grossfamilie zurückgeworfen. Oder um es in den Worten einer älteren Frau,
mit der ich sprechen konnte, auszudrücken: «Ich lebe nicht dort, wo ich gut und
glücklich von meiner Hände Arbeit und derjenigen meiner Familie leben kann,
sondern muss als Bittstellerin Obdach im Haus meines Onkels suchen.» Indem
wir Gesundheitseinrichtungen sanieren oder neu errichten, leisten wir einen
konkreten Beitrag dazu, dass Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren
können.
Wie sieht es in der Umgebung der
Rückkehrer-Familien aus?
Ökonomisch
gesehen bildete vor dem Krieg die Land- und Viehwirtschaft die Lebensgrundlage
der Region. Das Stück Land, das die Menschen bei ihrer Flucht verliessen, und
das ihnen einst Heimat war und Wohlstand ermöglichte, ist bei ihrer Rückkehr
meist nicht mehr wiedererkennbar, beziehungsweise in der gewohnten Weise weiter
zu verwenden. So
wurden beispielsweise in einer Ortschaft, die vor der Krise für ihre
Olivenbäume bekannt war, von den Invasoren alle Bäume gefällt und verbrannt:
Ein mutwilliger und nachhaltiger Schaden, der jegliche kurz- bis mittelfristige
wirtschaftliche Perspektive zerstört.
Wie ist die Lage von älteren Menschen
in solchen Krisen?
Wenn
die Zeit drängt und Leben auf dem Spiel stehen, geht es humanitären
Mitarbeitenden primär darum, möglichst viele Menschen mit umfassender Nothilfe
zu versorgen, um eine grösstmögliche Anzahl an Leben zu retten. Leider bedeutet
dies, dass spezifische Bedürfnisse bei diesem Wettlauf gegen die Zeit oft
untergehen und gerade ältere Menschen vielmals leer ausgehen. Denn
Betagte haben meist besondere Bedürfnisse und brauchen individuell abgestimmte
Unterstützung. Sie leiden beispielsweise an chronischen Krankheiten oder sind
auf einen regelmässigen Zugang zu Medikamenten und Gesundheitsleistungen
angewiesen. Andere haben körperliche Einschränkungen oder Behinderungen, die
ihren Alltag in einer neuen Umgebung enorm erschweren. Das heisst, sie brauchen
individuelle, massgeschneiderte Hilfsleistungen, die viele humanitäre
Organisationen inmitten von Krisen nicht gewährleisten können. Unseren Teams
ist diese Situation bewusst und sie geben ihr Bestes, um angemessen auf diese
oftmals «unsichtbaren» Bedürfnisse älterer Menschen zu reagieren.
Nun ist mit dem Türkei-Einmarsch in
Syrien die Region Irak und Syrien weiterhin nicht zur Ruhe gekommen. Wie wirkt sich diese Aktion der Türkei aus?
Die
aktuelle Krise begann während der letzten Tage meines Feldbesuchs. Wir rechneten
schon damals damit, dass Menschen aus den betroffenen Gebieten die Grenze zum
Irak überschreiten würden. Diese Annahme hat sich nun nach meiner Rückkehr auch
tatsächlich bewahrheitet. Als humanitäre Organisation können wir uns nicht zu
politischen Fragen äussern, um unser Engagement nicht zu gefährden. Klar ist
jedoch: Neue Flüchtlingswellen und weitere Verschiebungen von ganzen
Gemeinschaften werden sicher zu einer erhöhten Instabilität und damit zu einem
noch grösseren Bedarf an humanitärer Hilfe führen.
Welche Hoffnung sehen Sie aus
christlicher Sicht?
Ich
bin der Überzeugung, dass wir als Christen, und wir als Medair im Besonderen,
von Gott berufen sind, gemäss der Bibelstelle aus Matthäus Kapitel 25, Vers 35 zu leben: «Denn
ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt
mir zu trinken gegeben.» Diese Stelle beschreibt unseren Grundauftrag. Seit
30 Jahren unterstützen wir Menschen in Not und zwar ungeachtet ihrer Herkunft,
Nationalität, ihres Geschlechts oder ihrer religiösen Ausrichtung. Ich durfte
mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die Mitarbeiter von Medair und
auch Mitarbeiter anderer humanitärer Organisationen nachhaltige Hilfe leisten.
Als internationale Mitarbeiter gehören wir keiner der involvierten Parteien an,
sondern können durch Fachkompetenz und Professionalität tatkräftig zur
individuellen Verbesserung der Lebensumstände der Menschen vor Ort beitragen.
Massgeblich für unser Handeln ist, dass wir dies auf Augenhöhe mit den
Betroffenen tun. Beispielsweise indem wir sie fragen, was ihre dringendsten
Bedürfnisse sind und später überprüfen, ob unser Handeln den gewünschten Effekt
erzielt hat. Nebst den Vertriebenen selbst haben wir auch das Wohl jener
Gemeinschaften im Auge, die Geflüchtete aufgenommen haben.
Was wünschen Sie sich
persönlich?
Persönlich
wünsche ich mir, dass in der Zusammenarbeit unserer internationalen
Mitarbeiter, die Christen sind, mit den nationalen Kollegen dieses Mehr spürbar
ist, das uns als Christen geschenkt ist: dass wir von uns und unseren eigenen
Bedürfnissen wegschauenen und uns ganz dem Nächsten annehmen dürfen, weil wir
wissen, dass auf uns geschaut wird. Denn
die tägliche Arbeit unserer Kollegen im Nordirak, wie auch an allen anderen
Brennpunkten, in denen Medair Nothilfe leistet, ist geprägt durch
entbehrungsreiches und fleissiges Anpacken. Ich wünsche mir, dass wir täglich
unsere klare Vision leben können, die das Ehepaar Volkmar vor 30 Jahren bei der
Gründung unserer Organisation kommunizierte: In den Krisengebieten dieser Welt
Leid zu lindern und Menschen neue Hoffnung zu schenken.
Zur Webseite von Medair:
Medair
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet