Medair unter Rohingya
«Durch uns erleben sie, dass die Welt sie nicht vergessen hat»
Das heute grösste Flüchtlingslager der Welt ist das Camp Kutupalong, erklärt Carl Adams, Leiter des Landesprogramms Bangladesch von «Medair», im Interview mit Livenet. 600'000 Rohingya leben dort. Unter anderem betreibt das Schweizer Werk im Lager drei Ernährungszentren, in denen Kinder von sechs Monaten bis fünf Jahren sowie schwangere und stillende Frauen vor Unterernährung bewahrt werden.
Carl Adams, wie präsentiert sich die aktuelle Situation der Rohingya?Carl Adams: Seit Beginn der Rohingya-Krise sind bereits über zwei Jahre vergangen und die Mehrheit der Rohingya-Flüchtlinge lebt immer noch im Flüchtlingscamp Kutupalong, dem heute grössten Flüchtlingslager der Welt. Über 600'000 Menschen leben hier auf nur 13 Quadratkilometer Land zusammen. Das Lager wurde in Eile und deshalb nur notdürftig auf sandigen Hügeln errichtet und ist starkem Regen, Wind und auch sehr heissem Wetter ausgesetzt. Schatten gibt es kaum. Die Bedingungen sind also sehr schwierig. Hinzu kommt, dass die Rohingya nicht arbeiten dürfen und daher vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Sie haben keine Wahl. Die politische Situation ist verfahren und es ist schwierig, einen Lösungsansatz zur Beendigung der Krise zu finden. Die Rohingya wollen nach Myanmar zurückkehren, aber erst dann, wenn ihre Sicherheit und ihre Rechte – einschliesslich einer Staatsbürgerschaft – gewährleistet sind.
Welche Projekte führt
Medair vor Ort?
Unsere Projekte konzentrieren sich auf drei Bereiche:
Ernährung, Gesundheit und Unterkünfte. Wir betreiben drei Ernährungszentren im
Lager, in welchen wir Kindern im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren sowie
schwangeren und stillenden Frauen kostenlose Zusatznahrung abgeben, um
Unterernährung zu verhindern. In einem abgelegenen Teil des Lagers betreiben wir
ausserdem eine Gesundheitsklinik mit kostenlosen Gesundheitsdiensten. Wir
versorgen Familien mit Planen, Bambus und Draht und lehren sie, wie sie ihre
Unterkünfte verstärken und sicherer verankern können, um sich besser vor
den widrigen Wetterbedingungen zu schützen. Bei all diesen Projekten arbeiten wir
mit World Concern zusammen, einer christlichen Hilfsorganisation, die seit
vielen Jahren in Bangladesch tätig ist.
Welche Erfahrungen
macht ihr bei eurer Arbeit mit den Rohingya?
Die Rohingya haben schreckliches Leid überlebt. Wenn sie
ihre Geschichten erzählen und wir hören, was sie durchgemacht haben, macht uns
das schlicht und einfach tief betroffen. Wir alle sind beeindruckt von ihrer
Widerstandsfähigkeit und ihrer Entschlossenheit, weiterzumachen. Selbst unter
schwierigsten Bedingungen weigern sie sich, aufzugeben und die Hoffnung zu
verlieren. Diese Haltung erleben wir immer und immer wieder bei unseren
Begegnungen. Es ist wirklich inspirierend. Bei allem, was wir tun, wollen wir den einzelnen Menschen
ins Zentrum stellen. Wir wollen zuhören, erfahren, was die Menschen wirklich
brauchen und dann mit ihnen zusammen ihre Bedürfnisse so effektiv und effizient
wie möglich decken.
Welchen Unterschied
könnt ihr bewirken?
Wir können Soforthilfe bieten, aber den Menschen nicht
wirklich das geben, wonach sie sich zutiefst sehnen: in ihre Häuser
zurückzukehren und in Frieden und Freiheit leben zu können. Wir sind
zuversichtlich, dass dies eines Tages möglich sein wird. Aber bis es soweit
ist, müssen wir sie weiterhin mit dem Grundlegensten vorsorgen und ihnen
helfen, diese schwierige Zeit zu überstehen. Sie brauchen Nahrung,
Gesundheitsversorgung und Unterkünfte. Manchmal ist es für sie jedoch fast noch
wichtiger, dass wir uns einfach Zeit für sie nehmen, dass wir uns zu ihnen
setzen und uns ihre Geschichten anhören. Dies gibt ihnen neuen Mut und neue
Hoffnung, weil sie dadurch erleben, dass die Welt sie nicht vergessen hat.
Was treibt Sie dazu an,
unter den Rohingya zu arbeiten?
Wenn eine ganze Volksgruppe aus Angst um ihr Leben und das
ihrer Familie vor schrecklicher Gewalt fliehen und danach unter primitivsten
Umständen als Flüchtling in einem fremden Land leben muss, ist das
Ungerechtigkeit. Was ich besonders tragisch finde: Die Menschen leben nur
wenige Kilometer von ihren Häusern entfernt, können oder wollen aber aus Angst
vor Gewalt nicht zurückkehren. Wenn man dies alles hautnah miterlebt und wenn
die Zahlen der Statistiken zu Menschen, zu Bekannten werden, entwickelt man ganz
automatisch Leidenschaft für die Sache. Es entwickelt sich in einem der tiefe
Wunsch, alles dafür zu geben, die Rohingya in dieser schweren Zeit zu
unterstützen und ihre Forderungen nach wenigstens den minimalsten Rechten zu
unterstützen. Rechte, über die wir hier im Westen gar nicht erst nachdenken, da
sie für uns so selbstverständlich sind.
Wie erleben Sie Gott in Ihrer Arbeit mit den Rohingyas?
Bevor ich nach Bangladesch kam, hatte ich folgende
Vorstellung: Mit Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen zusammen zu
leben und zu arbeiten bedeutet, dass wir nicht miteinander über unseren
Glauben oder über Gott sprechen können. Als ich meine Arbeit begann, begriff
ich jedoch sehr schnell, dass unser Glaube zwar unterschiedlich sein kann, dass
er aber ein unglaublich tief verwurzelter Teil unserer menschlichen Identität
ist: Er definiert, wie wir uns selbst sehen, wie wir andere sehen und viele
weitere grundlegende Aspekte unseres Lebens. Glaube ist bei uns in Bangladesch
ein alltägliches Thema: Danke zu sagen für alles Gute, das wir erleben, bei
Herausforderungen zu beten, Frieden und Trost in schwierigen Zeiten zu suchen
und so weiter. Mein Glaube hilft mir, Menschen besser zu verstehen und sie
stärker wertzuschätzen.
Was motiviert Sie
persönlich in Ihrer Arbeit?
Es motiviert mich ungemein, mit leidenschaftlichen lokalen
Mitarbeitenden zusammenarbeiten zu können, die sich für ihre Gemeinschaft
engagieren und die ständig darum bemüht sind, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse
weiterzuentwickeln. Sie geben ihr Bestes, um Veränderung zu bewirken und
anderen Hoffnung für die Zukunft zu vermitteln. Mit ihrer Einstellung
ermutigen, motivieren und inspirieren sie die Menschen um sich herum und
bringen sie dazu, diese Vision mitzutragen.
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet